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Gesundheit: Jenseits von Yin und Yang

Westliche und chinesische Medizin sind die ältesten heilkundlichen Traditionen – und sie haben erstaunlich viele Gemeinsamkeiten

Irgendwo zwischen Europa und China muss eine Wasserscheide der Heilkulturen liegen. Dieses Eindrucks kann sich kaum erwehren, wer die populäre Literatur über sogenannte „Chinesische Medizin“ studiert. Gleichsam ein Ural, an dessen westlicher Seite ein kausal-analytisches, von Chemie und Physik durchdrungenes und technologische Anwendungen suchendes Denken nach Europa fließt, während nach Osten hin ganzheitliche, nichtkausale, naturnahe Vorstellungen vom Körper und seinen Krankheiten die Ärzte in ihrem Handeln beflügeln.

Die Wirklichkeit sieht freilich etwas anders aus. Möglicherweise standen beide Enden des eurasischen Kontinents bereits vor zwei Jahrtausenden in geistigem Austausch. Vielleicht rühren die vielen Parallelen in der Sicht auf den kranken Menschen aber ganz einfach daher, dass bestimmte Grunderfahrungen im menschlichen Miteinander hier wie dort identisch waren.

Medizinische Theorien, so viel ist gewiss, werden stets von Grunderfahrungen des menschlichen Miteinanders in weitaus stärkerem Maße geprägt als von den physiologischen, morphologischen und pathologischen Daten, die der menschliche Körper seinem Beobachter mitzuteilen imstande ist. Das heißt aber auch, dass chinesische Medizintheorien sich von den europäischen Vorstellungen im Verlauf der vergangenen zwei Jahrtausende nur soweit unterschieden, wie sich die Realitäten und die Ideale menschlicher Gesellschaft unterschieden.

Das ist das Faszinierende am Vergleich der beiden Traditionen: Die Ausdrucksfähigkeit des Organismus war identisch in West und Ost, ob es nun um seine Gerüche, um Fieber, Schmerzen, Schwellungen, Geschwüre oder Altersvorgänge geht. Und auch die Beobachtungsgabe chinesischer und europäischer Ärzte und Naturforscher war identisch. Woher sollte dann eine grundlegende Divergenz in der Deutung der gesunden und der als abnormal, als krank angesehenen Zustände herrühren?

Die zwei Kulturen

Allein die Lebensumstände und die Lebensentwürfe, die gesellschaftlichen Realitäten und die Visionen einer heilen Welt waren in der christlich geprägten Zivilisation des Abendlandes und der von Konfuzianismus und Daoismus, Legismus und Buddhismus beeinflussten Kultur des Fernen Ostens unterschiedlich. Die Grundlagen beider Medizintraditionen sind die gleichen.

Leiden hat zweierlei Ursachen. Leiden kann durch Feinde verursacht werden, die allüberall in unserer Umwelt existieren und dem Menschen stets von außen oder innen zu schaden suchen. Diese Feinde können Mikroorganismen oder Dämonen, Kälte, Hitze, Feuchtigkeit oder Viren, Bakterien oder Prionen heißen. Gegen diese Feinde heißt es, sich zu wappnen. Wenn sie trotz aller Vorsichtsmaßnahmen im Körper angelangt sind und ihr Zerstörungswerk beginnen, ist ein militärischer Abwehrkampf vonnöten: töten, unschädlich machen, entfernen. Daran hat sich nichts geändert von der Antike in China bis in die Gegenwart unserer modernen Medizin.

Aber es gab auch das Gegenmodell. Früh schon haben die Griechen wie die Chinesen bemerkt, dass es Gesetze gibt, denen man sich besser unterordnet: im Staat wie in der Natur. Den Gesetzen entsprechend zu leben, den einzelnen Organismus in die Regelhaftigkeit des großen Ganzen einzuordnen, Harmonie zu erreichen durch makrobiotisches Handeln, das war die zweite Grundlage medizinischer Wissenschaft – wiederum in Ost und West, in der Antike wie heute auch.

Damals hießen die gängigen Theorien Yin-Yang-Lehre und Fünf-Phasen-Doktrin in China; heute erklären wir die Welt mit Chemie und Physik. Die Grundstrukturen sind die gleichen geblieben: die Gesetzmäßigkeiten von Yin und Yang oder von Chemie und Physik gelten für die kleinste Zelle im Körper ebenso wie für die fernsten Weiten. Sich diesen Gesetzmäßigkeiten zu entziehen, bedeutete Gefährdung wenn nicht gar Tod.

Der große Unterschied, den wir heute sehen, liegt freilich auf einer anderen Ebene. Mit Yin und Yang kann man zwar vieles im nachhinein erklären, aber keine Flugzeuge in die Luft und keinen Wecker zum Klingeln bringen. Und hier liegt die Gretchenfrage: Hat es einen Sinn, ein Ideensystem der Antike in die Gegenwart zu übertragen, dessen faktische Realitätsnähe sich auf Banalitäten wie den Dualismus von Tag und Nacht, Hell und Dunkel, Mann und Frau beschränkt? Hat es Sinn, eine antike Wissenschaft in unsere Gegenwart zu übertragen, die nirgendwo und zu keiner Zeit maßgebend war für die Entwicklung derjenigen Technologien, die unser aller Leben heute bestimmen?

Interessanterweise stellt sich diese Frage vor allem dort, wo man eigentlich Chemie und Physik als Grundlagen täglicher Lebenswelt fest verankert wähnen sollte, im Westen. In China selbst ist zu Beginn der 1950er Jahre die Entscheidung gefallen: für die moderne Wissenschaft und Technologie als Grundlage der sozialistischen Gesellschaft der Zukunft und somit auch als Grundlage des Umgangs mit dem menschlichen Körper, in gesunden wie in kranken Tagen.

Und die traditionelle chinesische Medizin? Die bietet, in der Akupunktur und in der Arzneikunde, in Atemtechniken oder der Massage, ein reiches praktisches Wissen, das auch heute noch vielen hilfreich erscheint. Der Kern des Problems sind die Theorien.

Benötigt man, um das in China im Laufe von zwei Jahrtausenden angehäufte praktische Wissen in die Gegenwart und Zukunft mitzunehmen, auch die Deutungen und Theorien der chinesischen Geschichte? Die historische Analyse dieser Ideengebäude rät eher zur Zurückhaltung. Es hat ja nie die „eine chinesische Medizin“ gegeben.

Gleich zu Beginn der chinesischen Medizingeschichte, zwischen dem 2.Jahrhundert vor und dem 2. Jahrhundert n. Chr. kam es zu einem grundlegenden Schisma, das bis in die Gegenwart fortwirkt. Die Einigung des chinesischen Reichs im Jahre 221 v. Chr. und die konfuzianische und legistische Sichtweise, wie ein solch komplexes Staatswesen zu regieren sei, schlugen sich sogleich in einer völlig neuen Auffassung des menschlichen Organismus, seiner inneren Strukturen, seiner gesunden Vorgänge und seiner Krankheiten nieder. Sicherlich fanden auch klinische Beobachtungen Eingang in die neue Medizin, aber doch nur als Bestätigung für Grundannahmen, die der Sicht nicht auf den menschlichen Körper, sondern auf den realen und idealen gesellschaftlichen Organismus entnommen waren.

Die chinesischen Klassiker sind höchst aussagekräftige Quellen über antike Vorstellungen von Harmonie und Krise der Gesellschaft. Faszinierend aus heutiger Sicht ist die Tatsache, dass nicht die gesamte chinesische Elite diese Entwicklung mitvollziehen mochte. Diejenigen, die ein ideales menschliches Miteinander nicht in dem großen, von der Bürokratie gelenkten, von Handel und Wandel durchzogenen Staatswesen sahen, sondern die kleine autarke Gemeinschaft als Hort des Friedens und der Harmonie befürworteten – diese Intellektuellen konnten sich nie entschließen, die neue Medizin zu übernehmen. Sie übernahmen nicht einmal die Wissenschaften von Yin und Yang und den Fünf Phasen allen Seins in ihre Lebensentwürfe.

Die Daoisten führten, in medizinischer wie politischer Opposition zu den Konfuzianern und Legisten, die vormedizinische Heilkunde fort. Sie entwickelten die wissenschaftsfreie, auf Empirie und Magie gegründete Arzneikunde fort. Sie vertrauten nicht der Akupunktur, die doch nur geschaffen war, um frühe Zeichen einer Fehlentwicklung zu korrigieren, niemals aber manifestes Kranksein zu behandeln. Sie setzten ihre Hoffnungen auf die Substanzen der Natur, auf Pflanzen, Tiere, Mineralien, und auch auf künstlich hergestellte Substanzen, um dem Körper Gesundheit zu bewahren oder wiederherzustellen.

Die Medizin der Konfuzianer und Legisten glaubte an Gesetzmäßigkeiten, an Einordnung in das große Ganze. Die alten Feinde fanden in dem neuen „Organismus“ keinen Platz. Dämonen und Kleinstlebewesen, die sich bekanntlich nicht an irgendwelche Ordnung hielten, tauchten in der Medizin nicht mehr auf; allein die Daoisten führten dieses Wissen weiter.

Rein politische Ursachen, das gilt es festzuhalten, waren die Ursache für die Entwicklung zweier völlig eigenständiger heilkundlicher Traditionen in der chinesischen Antike. Rein politische Ursachen waren auch dafür verantwortlich, dass 1000 Jahre später eine Korrektur versucht wurde. Vom 12. bis ins 15. Jahrhundert, als eine neue Version des in die Jahre gekommenen Konfuzianismus die Tür zu einigen bislang dem Daoismus vorbehaltenen Arenen öffnete, verknüpften Ärzte die bislang der Erklärung des Körpers und der Akupunktur vorbehaltenen Theorien von der Korrelation aller Dinge auch mit den Wirkungen der Arzneien im menschlichen Körper. Die Bausteine für die neue Theorie waren bereits ein ganzes Jahrtausend lang verfügbar. Keine neue klinische Beobachtung, keine therapeutischen Experimente oder Erfordernisse veranlassten die Entwicklung. Wie stets zuvor und auch danach kam die Anregung von außen.

So auch im 20. Jahrhundert, als nach der Gründung der Volksrepublik Kommissionen beauftragt wurden, aus der heterogenen Vielfalt der Vergangenheit eine „traditionelle“ Medizin herauszulösen, die nicht mit moderner Wissenschaft und Technologie in Widerspruch stehe. Wieder standen politische Erwägungen im Vordergrund, als nun die sogenannte „Traditionelle Chinesische Medizin“ geschaffen wurde. Zunächst nur für China, denn vor Beginn der 1970er Jahre konnte niemand ahnen, welche Öffnung zum Westen noch bevorstand.

Schmerzbetäubung

Als dann, angelockt von den Schein-Erfolgen der Akupunkturanalgesie (Schmerzbetäubung) in spektakulären Operationen, westliche Ärzte seit Mitte der siebziger Jahre nach China reisten, lernten sie eine „Traditionelle Chinesische Medizin“ kennen, die ihnen exotisch erschien, aber gleichzeitig vertraut und leicht zu erlernen war. Exotisch, weil sie einige theoretische Versatzstücke der Vergangenheit bewahrt hatte; vertraut, weil das eigentlich Chinesische in den alten Theorien, allem voran der unbefangene Umgang mit Widersprüchlichkeiten, aber auch die vielen aus heutiger Kenntnis eindeutig fehlerhaften Annahmen, aus dem neuen Kunstprodukt getilgt waren.

Die „Traditionelle Chinesische Medizin“hat ihren Weg schnell in den Westen gefunden. Sie eignet sich als Projektionsfläche für all die Ängste und Besorgnisse gegenüber Chemie und Physik, Technologie und Energiekrise, Verlust der Mitte und Naturzerstörung, die westliche Gesellschaften so tief bewegen. Und selbstverständlich heilt sie manche Leiden, wie bislang noch jede Heilkunde. Allerdings nicht den Oberschenkelhalsbruch, nicht die Malaria und auch nicht den Gebärmutterhalskrebs. Aber manche der Leiden, die Menschen im Alltag empfinden und deren Genese auch der modern ausgebildete Arzt oft nur vermuten kann.

Westliche und chinesische Medizin bilden die beiden längsten durchgehend dokumentierten heilkundlichen Traditionen der Menschheit. Ihre vergleichende Erforschung sagt uns mehr über unsere Fähigkeiten, unsere Existenz zu deuten, über grundlegende Gemeinsamkeiten der Kulturen und oberflächliche Unterschiede, als man auf den ersten Blick vermuten möchte. Eine Wasserscheide des Denkens irgendwo zwischen Europa und China hat es nie gegeben. Der Ural bleibt, was er immer schon war: eine überwindbare geographische Barriere.

Der Autor ist Medizinhistoriker an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität. Zuletzt ist von ihm das Buch erschienen: „Was ist Medizin? Westliche und östliche Wege der Heilkunst“, C.H. Beck Verlag, München 2003.

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