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Gesundheit: Kannibalismus: Mensch im Stuhl

Irgendwann Im 12. Jahrhundert wurde ein Pueblo-Dorf im heutigen Colorado im mittleren Westen der USA zur Stätte eines grausigen Geschehens.

Irgendwann Im 12. Jahrhundert wurde ein Pueblo-Dorf im heutigen Colorado im mittleren Westen der USA zur Stätte eines grausigen Geschehens. Funde menschlicher Knochen belegen nicht nur, dass das einst blühende Dorf urplötzlich zur Geisterstadt wurde. Sie sind zugleich ein stummes Zeugnis einer kannibalischen Orgie von Menschen. Abgetrennte Knochen von einem Dutzend menschlicher Körper tragen Kennzeichen dafür, dass Körperteile mit Messern abgetrennt und anschließend gekocht oder gebraten wurden.

Vielen Forschern reichen derartige Belege dennoch nicht aus, um tatsächlich den Verzehr anderer Menschen zu beweisen. Ein Team von Anthropologen um Richard Marlar von der medizinischen Fakultät der Universitat von Colorado in Denver hat jetzt in dem Pueblo weitere, spektakuläre Hinweise gefunden, die erstmals zweifelsfrei Kannibalismus auch beim Menschen belegen.

Marler präsentiert in der heute erschienenen Ausgabe von "Nature" (Band 407, Seite 74) biochemische Analysen von Kochgeräten sowie von menschlichen Kotproben, die bei archäologischen Grabungen gefunden wurden. Darin ließen sich Spuren menschlichen Myoglobins feststellen. Dieses Eiweiß findet sich ausschließlich im Herzmuskel und in den Skelettmuskeln von Menschen. Mit einer speziellen, auf menschlichen Antikörpern basierenden Nachweisreaktion für Myoglobin gelang es dem Team um Marler, Spuren dieses Proteins in einem Kochtopf aus dem Pueblo in Colorado festzustellen. Offenbar war menschliches Fleisch gekocht worden, bevor das Dorf verlassen wurde.

Kritiker könnten einwenden, das Kochen menschlichen Fleisches selbst sei noch kein Beweis fur den Verzehr von Mitmenschen. Doch in der Asche des Kochfeuers fand das Team um Marler überdies getrockneten, aber nicht verbrannten menschlichen Kot, der dort offenbar nach dem Verglimmen des Feuers abgesetzt worden ist. Im Kot fehlten pflanzliche Überreste; dagegen ließ sich da-rin ebenfalls Myoglobin nachweisen. "Also hat jener kotabsetzende Mensch zuvor menschliches Fleisch verzehrt", so die Schlussfolgerung von Richard Marler.

Übrigens ist der archäologische Nachweis menschlichen Stuhlgangs gar keine Seltenheit. An der Ausgrabungsstelle besagten Pueblos fanden sich 20 weitere Kotproben von Menschen des 12. Jahrhunderts, in denen indes kein Myoglobin nachweisbar war; ebenso wenig wie in den Stuhlproben von 29 gesunden Zeitgenossen der Forscher sowie bei zehn Patienten mit Darmblutungen, die diese zur Kontrolle untersuchten. Da der verwendete Antikörper-Test sehr spezifisch menschliches Myoglobin nachweist, reagiert er auch nicht auf das verwandte Bluteiweiß Hämoglobin. Dieser ebenso überraschende wie überzeugende Nachweis von Muskeleiweis im menschlichen Kot macht es letztlich höchst unwahrscheinlich, dass das Myoglobin anders als durch den Verzehr von Artgenossen in den Körper gelangte.

Obgleich Anthropologen in der Vergangenheit bei Ausgrabungen, aber auch bei zahlreichen Naturvölkern wiederholt Hinweise auf Kannibalismus beim Menschen entdeckt haben, ist dieser neue Fund nach Einschätzung der Experten der sicherste Hinweis darauf, dass Menschen nicht nur in extremen Ausnahmesituationen andere Menschen essen. Blutrünstige Kannibalen bevölkern die Weltliteratur, geistern durch Abenteuer-Romane a la Stevenson und sind Gegenstand kulturgeschichtlicher Betrachtungen über das angeblich Böse im Menschen. Seit langem gehört der Kannibalismus zu den kontroversen Themen der menschlichen Kulturgeschichte. Dabei sei es verblüffend, meint der Evolutionsbiologe Jared Diamond von der Universitat von Kalifornien in Los Angeles, mit welcher Vehemenz die Gegner der Kannibalismus-These bislang versucht haben, jegliche Belege zu negieren. Dies insbesondere mit dem Einspruch, dass die Anthropophagie - das Verspeisen von Menschen durch Artgenossen - lediglich auf Ausnahmefälle wie extreme Hungersituationen oder rituelle Praktiken etwa im Zusammenhang mit kriegerischen Auseinandersetzungen beschränkt sei.

Einige Forscher bezweifeln nicht, dass es immer wieder einmal brutale Tötungen von Artgenossen gegeben hat; sie bestreiten jedoch, dass dies irgendetwas über die Ernährungsgewohnheiten des Menschen aussagt. Diamond selbst war bei seinen Feldstudien 1965 auf Neuguinea mit kannibalischen Sitten eines dortigen Volksstammes konfrontiert worden. Einer seiner einheimischen Begleiter war nach dem Tode des Schwiegersohns zum Dorf zurückgerufen worden, um dort an einer Art kannibalischer "Begräbniszeremonie" teilzunehmen, bei dem der Leichnam von der Dorfgemeinschaft verzehrt wurde.

Erst kürzlich hatten Paläo-Anthropologen deutliche Hinweise fur Kannibalismus auch beim Neandertaler entdeckt. Zwar müssen nicht alle Neandertaler Kannibalen gewesen sein; doch detaillierte Studien an rund 100 000 Jahre alten Knochenfunden in der französischen Höhle von Moula Guercy belegen, dass zumindest einige Menschenfresser waren. Diese hatten sich in der Höhle im Rhône-Tal offenbar an mehreren Artgenossen gütlich getan und deren Knochen wie die anderer erbeuteter Wildtiere achtlos in der Höhle zurückgelassen.

Verräterische Schnittspuren und Kratzer von Steinmessern an menschlichen Knochen deuteten auf regelrechte Metzgerarbeiten am Menschen hin. Dabei hatten die Neandertaler vermutlich Fleisch, Muskeln und Sehnen von den Knochen getrennt und lange Röhrenknochen zertrümmert, um an das eiweißreiche Knochenmark zu gelangen. Die Forscher um Tim White und Alban Defleur vermuteten damals allerdings, dass Kannibalismus bei Neandertalern und ihren Vorfahren häufiger vorgekommen sein dürfte als beim modernen Menschen. Kritiker indes glauben, dass die Spuren an den Überresten von Menschen nicht zwangsläufig etwas mit der Vorbereitung einer Mahlzeit zu tun haben müssen; vielmehr sehen sie darin Hinweise auf ein Bestattungsritual.

Die neuen Funde in Colorado werden sicher dazu beitragen, Zweifel am kannibalischen Verhalten auch des Menschen auszuräumen. Jared Diamond ist sich sicher, dass der Verzehr von Mitmenschen ein einstmals weit verbreitetes Phänomen war. Denn die vielen Hinweise bei Naturvölkern gerade des pazifischen Raumes zeigen, dass Kannibalismus wenigstens in einigen menschlichen Gesellschaften durchaus gängige Praxis gewesen sein dürfte.

Dagegen scheinen sich insbesondere jene Kulturwissenschaftler westlicher Gesellschaften, die so gern an das Gute im Menschen glauben wollen, angeekelt nicht nur vom Kannibalismus abzuwenden, sondern auch von den vielfältigen und zunehmenden Indizien, die diese Seite menschlichen Verhaltens belegen.

Matthias Glaubrecht

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