zum Hauptinhalt

Gesundheit: Karriere ist nicht die Barriere

Es ist eine Binsenweisheit in der Sozialpolitik, dass den Deutschen eine Vergreisung der Gesellschaft droht. Nicht nur, dass die durchschnittliche Kinderzahl seit längerem schrumpft, auch die Zahl der gänzlich Kinderlosen hat erheblich zugenommen.

Es ist eine Binsenweisheit in der Sozialpolitik, dass den Deutschen eine Vergreisung der Gesellschaft droht. Nicht nur, dass die durchschnittliche Kinderzahl seit längerem schrumpft, auch die Zahl der gänzlich Kinderlosen hat erheblich zugenommen.

Die übliche Erklärung lautet, dass viele Frauen ihren Kinderwunsch unterdrücken, weil die Verknüpfung von Karriere und Mutterschaft über ihre Kräfte geht. Doch nach neuesten Forschungsarbeiten geht diese Erklärung an der Realität vorbei.

Der Anteil der Frauen, die kinderlos bleiben, nimmt in Deutschland beständig zu. Die Zahl der Frauen zwischen 16 und 22, die angeben, dass sie keine Kinder haben wollen, hat sich seit Mitte der 60er Jahre von fünf auf zehn Prozent erhöht. Von den Frauen, die nach 1965 geboren wurden, dürfte aber faktisch jede dritte kinderlos bleiben, schätzt Johannes Dietl, Direktor der Universitäts-Frauenklinik Würzburg, im "Deutschen Ärzteblatt". Mit der hohen Kinderlosigkeit steht Deutschland neben England europaweit an der Spitze.

In der sozialpolitischen Diskussion wird dieser Trend fast stets auf die Unvereinbarkeit der Mutterrolle mit dem beruflichen Fortkommen zurückgeführt. Dabei wird gerne das Stereotyp der hoch ambitionierten Karrierefrau beschworen, die ihre mütterlichen Sehnsüchte wegen der unentrinnbaren beruflichen Anforderungen verdrängt. Diese Sichtweise aber hat wenig mit den Realitäten gemeinsam, wie die beiden Bevölkerungswissenschaftler Fiona Mcallister und Lynda Clarke vom Family Policy Studies Center in London festgestellt haben.

Es gab bisher nur wenige greifbare Informationen über die Merkmale kinderloser Frauen, und diese gingen meistens auch sehr kleine und unrepräsentative Stichproben zurück. Um dieses Manko zu überwinden, haben die beiden Forscherinnen jetzt 176 freiwillig kinderlose Frauen zwischen 33 und 49 Jahren ausgesucht, die ein breites Spektrum an Lebenssituationen verkörperten. "Freiwilligkeit" bedeutete in diesem Fall entweder, dass die Frauen felsenfest zu ihrer Kinderlosigkeit standen, dass sie diese akzeptierten oder dass sie sie zumindest mit gemischten Gefühlen hinnahmen.

Der Glaube, dass Kinderlosigkeit generell aus einem Konflikt zwischen Karriere und Mutterschaft resultiert, wird nach Ansicht der Forscher durch die Aussagen der befragten Frauen widerlegt. Nur eine verschwindende Minderheit sah sich selbst als "karriereorientiert" oder akzeptierte das Etikett "Karrierefrau".

Die Hälfte nahm sich selbst als "überhaupt nicht ehrgeizig" wahr. Nur wenige der kinderlosen Frauen hatten von früh an ihre berufliche Laufbahn geplant. "Diese Daten sprechen gegen die Hypothese, dass Kinderlose der Arbeit eine hohe Priorität beimessen und dass die Karriere-Orientierung mit ihrem Kinderwunsch in Konflikt gerät", so das Fazit der Forscherinnen.

Die geringe Karriereorientierung lässt sich auch daran ablesen, dass bei einem Drittel der Befragten eine vorzeitige Pensionierung ganz oben auf der Wunschliste stand. Von jenen, die sich am stärksten mit der Kinderlosigkeit identifizierten, sehnten sich gar mehr als die Hälfte nach einem vorzeitigen Abgang aus der Arbeitswelt.

Nach welchen Lebenszielen jenseits der Arbeit Kinderlose streben, hat Professor Klaus A. Schneewind vom Institut für Psychologie der Universität München untersucht. Der Bereich "Reisen" und die Intensivierung der Partnerschaft nahmen dabei die ersten Ränge ein.

Ein Aspekt des Stereotyps besagt, dass die vermehrte Bereitstellung von Berufschancen für Frauen von einer Zunahme der Kinderlosigkeit begleitet wird. Auch diese Annahme geht an der Wirklichkeit vorbei. So gehört Italien in Europa zu den Ländern mit der niedrigsten Fortpflanzungsrate. Und das, obwohl in Italien mit seiner traditionell hohen Wertschätzung der Mutterschaft nur eine sehr niedrige weibliche Beschäftigungsquote existiert.

Auch in der Chefetage steht die Karriere nicht zwingend der Mutterschaft im Wege, sagt Sonja Bischoff, BWL-Professorin an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg. Sie hat 1998 zum dritten Mal - nach 1986 und 1991 - jeweils 1000 Männer und Frauen in Führungspositionen in Deutschland befragt. Der Anteil der kinderlosen Frauen ging zurück. Frauen auf der ersten Führungsebene haben heute zu 60 Prozent Kinder und in der zweiten und dritten Ebene noch zu 45 Prozent.

Rolf Degen

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false