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Gesundheit: Kein Klagelied vom Verlust der Werte

Die Klagen häufen sich. Unsere Gesellschaft zerfällt.

Die Klagen häufen sich. Unsere Gesellschaft zerfällt. Wir wissen nicht mehr, was wir wissen sollen. Wissen nicht einmal mehr das, was man wissen sollte, um Wissen zu erlangen, wie die aktuelle Studie Pisa gerade verkündet. Daneben lösen sich die ethischen Grundsätze auf. Man könnte meinen, unserer Gesellschaft fehle nicht nur das geistige, sondern auch das sittlich-moralische Band. Doch sind unsere Werte tatsächlich so gefährdet, wie es der amerikanische Soziologe Richard Sennett in seinem Buch "Der flexible Mensch" ausführt? Ist die Charakterbildung des modernen Menschen wirklich so fundamental bedroht durch den flexiblen Kapitalismus? Sind die zwischenmenschlichen Bindungen aufgrund von Arbeitsplatzunsicherheit und unplanbarer Zukunft wirklich zu einer "erniedrigenden Oberflächlichkeit" herabgesunken?

Gegen pauschale Kulturkritik

Dem Berliner Soziologen Hans Joas, der an der FU lehrt, ist das alles zu viel pauschale Kulturkritik. "Die Klagelieder vom Verlust der Werte und der Fragmentierung unserer Gesellschaft bilden mittlerweile schon ein eigenes Genre", sagte Joas beim vierten Werkstattgespräch von "McKinsey bildet", das am Montag im Tegeler Humboldt-Schlösschen stattfand. "Wann eigentlich soll denn die Zeit vor der behaupteten Fragmentierung gewesen sein?", fragte er schmunzelnd vor gut 80 geladenen Gästen aus Wissenschaft, Politik und Kultur. Solche Klagen würden sich über Jahrhunderte zurückverfolgen lassen. Nein, dieser "Duktus des Verfalls" gefällt ihm gar nicht.

Was hat sich tatsächlich verändert? Joas sieht in der Gegenwart eine "gestiegene Kontingenz", eine Häufung der überraschenden und zufälligen Begegnungen, der anonymen Nähe. Dahinter stehe eine "reale Zunahme von Handlungsoptionen", die die neuen Formen und Anforderungen des sozialen Lebens mit sich bringe. Für die Ausbildung und Akzeptanz von Werten habe das aber keine negativen Folgen: "Auch wenn ich sehe, dass es Tausende anderer Frauen gibt, erschüttert dies doch nicht meine Bindung an meine Frau", verdeutlichte Joas. Da man zwar "erlösende Freisetzung" von Möglichkeit erfahre, zugleich aber auch den "belastenden Zwang zur Entscheidung", werde das eigene Wertesystem gefordert und überprüft. Anstelle einer statischen trete nun die dynamische Stabilität, bei der es auch zu "Wertegeneralisierungen" komme. So beim christlich-buddhistischen Dialog über Nächstenliebe und Menschenrechte, bei dem "dieselben Werte zum Vorschein kommen".

Aufs Mitmachen kommt es an

Wir haben also ein "höheres Maß an Freiheit in der Bindung". Für die Ausbildung von Werten ist das ideal. Denn so bieten sich viele Erfahrungsmöglichkeiten. Und allein durch Erfahrung, meint Joas, können sich Werte bilden. Alle Versuche, in den Institutionen Werte zu vermitteln, ohne die Lebenswirklichkeit mit einzubeziehen, seien zum Scheitern verurteilt. "Intentional ist Wertevermittlung nicht steuerbar". Aber dennoch komme den Institutionen eine bedeutende Rolle zu. Schulen wie Universitäten sollten sich von den Erfahrungen der Schüler und Studenten nicht fernhalten. Liebe, Job, soziales Engagement - bei all diesen wertestiftenden Erfahrungen habe die Institution behilflich zu sein. Sie müsste "der Ort sein, wo Erfahrung verarbeitet werden kann". So würde er es begrüßen, wenn Germanisten Immigranten Sprachunterricht erteilen und dies auch als Studienleistung anerkannt wird. Doch Joas weiß genau, wie glänzend seine Ideen sind und wie stumpf die Wirklichkeit ist; angeregt von amerikanischen Vorbildern versuchte er einmal, die Universität zu einer Vermittlungsstelle für soziale Projekte zu machen - und gab die Idee mangels Interesse der Studierenden bald wieder auf. Anders gesagt: Werte macht man nur, wenn man auch mitmacht.

Tom Heithoff

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