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Gesundheit: Konsumgierige Teenager?

Die Nacht zum Sonnabend ist für Anne Weber kurz: Früh um 6 Uhr 30 schlüpft sie in eine Bäckerschürze. Sieben Stunden lang räumt sie dann warme Laugenbrezeln und Apfeltaschen aus der Backstube in die Vitrine und bedient die Kunden.

Die Nacht zum Sonnabend ist für Anne Weber kurz: Früh um 6 Uhr 30 schlüpft sie in eine Bäckerschürze. Sieben Stunden lang räumt sie dann warme Laugenbrezeln und Apfeltaschen aus der Backstube in die Vitrine und bedient die Kunden. Die 17-jährige Schülerin eines Stuttgarter Gymnasiums kennt kaum einen Mitschüler, der nicht auch einen Job hat. Ihre Freundin Sonja verteilt an Sonntagen in einer Zeitungsredaktion die Post. Eine andere Freundin packt in einem Sportgeschäft Kartons aus. "Wenigstens in den Ferien jobbt fast jeder", meint Anne Weber, die meisten schon seit Jahren.

Schüler, die als Babysitter, Kellner und Packhilfen arbeiten, sind nach Ansicht der Sozialwissenschaftler in Deutschland ein Massenphänomen. Wie viele Schüler wirklich jobben - darüber gibt es keine umfassenden Untersuchungen. Die Befragungen aus verschiedenen Bundesländern in den letzten zehn Jahren konzentrierten sich darauf, "verbotene Kinderarbeit" festzustellen. Nach Angaben des Philologenverbands arbeitet jeder dritte bayerische Schüler. Einer neuen Studie aus Thüringen zufolge gaben fast 38 Prozent der rund 2500 befragten Schülerinnen zwischen 13 und 15 Jahren an, einer bezahlten Beschäftigung nachzugehen. Nordrhein-Westfalen meldet eine "Kinderarbeitsquote" von 42 Prozent, Hessen von fast 52 Prozent. Das bereitet manchen Erwachsenen Sorge: Die arbeitenden Teenager vernachlässigen für den Konsum ihre schulischen Aufgaben, befürchtet der konservative Philologenverband. Das Deutsche Kinderhilfswerk meint sogar, die Schüler würden den Eltern 90 000 Arbeitsplätze wegnehmen.

Wenn in deutschen Medien von jobbenden Jugendlichen die Rede ist, geschieht dies meist im "Gestus von Empörung", hat der Erziehungswissenschaftler Manfred Liebel, Professor an der Technischen Universität Berlin, festgestellt. Nach Ansicht mancher Erwachsener sind die Schüler so versessen auf "Kohle" und Luxusartikel, dass sie ihre Bildung dem Tanz ums goldene Kalb opfern. Was die Arbeit wirklich für die Schüler bedeutet, warum sie jobben und wie der Job ihr Leben verändert, will Liebel in einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Projekt herausfinden.

Anne Weber, die in der Bäckerei arbeitet, reichen die 100 Mark Taschengeld nicht aus, die ihr die Elten geben. Ihr ist wichtig, sich in der Disco auch noch die zweite Cola leisten zu können oder auch die Jeans, die ihr gefallen: "Mit seinem eigenen Geld fühlt man sich selbstständiger", sagt sie. "Dann muss man nicht ständig fragen." Selbst wenn sie jeden Sonnabend sehr früh aufstehen muss, macht ihr die Arbeit doch manchmal Spaß. "Und wenn man Pflichten hat, ist das auch gut für den späteren Beruf", meint sie.

Man fühlt sich erwachsener

Anne Webers Wunsch zu arbeiten, lässt sich nicht einfach auf Konsumlust reduzieren, und das gilt auch für die meisten anderen jobbenden deutschen Teenager, glauben Liebel und sein Kollege Bernd Overwien von der TU. Die Jugendlichen machen die Erfahrung, dass sie zu Hause einen besseren Stand haben, wenn sie eigenes Geld verdienen. Sie empfinden den Job als Ausdruck ihrer Emanzipation von den Eltern, ihres Erwachsenwerdens. In diesem Sinne ist es nach Auffassung der Forscher zu verstehen, wenn der Großteil der in der Thüringer Studie befragten Schüler angibt, zu jobben, um "eigenes Geld zu verdienen".

Allen gefiel es, "frei über den Verdienst verfügen" zu können und den "Wert des Geldes schätzen" zu lernen. Oft sagen die Befragten wie Anne Weber, sie jobbten, "weil es mir Spaß macht". Während manche Erwachsene befürchten, die Kinder könnten wegen der Arbeit in der Schule unkonzentriert sein, gaben nur sehr wenige jobbende Schüler an, durch den Job in der Schule nachgelassen zu haben. Die Jungen arbeiten der Thüringer Studie zufolge häufiger am Bau und im Handwerk, die Mädchen mehr beim Babysitting, im Verkauf und in der Gastronomie. Jungen verdienen im Durchschnitt 9 Mark 41, Mädchen nur 8 Mark 72 pro Stunde. Neunzig Prozent der befragten Schüler im Alter von 14 und 15 Jahren, die keinen Job hatten, gaben an, sie wünschten sich zu jobben. Kaum ein Schüler sagte aber, er arbeite, "weil ich meine Eltern damit entlaste". Jobs helfen Schülern, sich selbstständig zu entwickeln und auch "soft skills" für den Beruf zu lernen.

Doch steht die jobbende Jugend juristisch in keinem guten Licht. Die Hälfte der in der Thüringer Studie befragten Jugendlichen arbeitete nach dem Arbeitsschutzgesetz und der Kinderarbeitsschutzverordnung illegal: Zahlreiche 14-Jährige jobbten während der Ferien länger als drei Stunden am Tag. Ein Drittel jobbte während der Schulzeit an Wochenenden. Viele 15- und 16-Jährige arbeiteten in den Ferien mehr als acht Stunden und mehr als fünf Tage. Die Anzahl solcher Fälle von "verbotener Kinderarbeit" hat sich nach der Thüringer Studie zwischen 1996 bis 1999 verdoppelt - der Arbeitswunsch der Schüler, den sie auch in die Tat umsetzen, und das Bestreben des Gesetzgebers, Kinder und Jugendliche zu schützen, decken sich nicht. Wird den Kindern in der Gesellschaft weniger Verantwortung übertragen, als sie sich selbst zutrauen?

Was genau ist "Kinderarbeit"?

Bei der Bundesregierung, die im Juni 2000 einen "Bericht über Kinderarbeit in Deutschland" vorgelegt hat, stellt Liebel eine wachsende Verzweiflung darüber fest, "dass immer mehr Kinder und Jugendliche dem Verbot der Kinderarbeit kein Verständnis entgegenbringen". Dass das Gesetz geändert werden müsste, meint die Bundesregierung aber nicht. Nach der Europäischen Richtlinie zum Jugendarbeitsschutz dürfen die EU-Länder Arbeit von Kindern unter 13 Jahren nicht zulassen. Täten sie es doch, bestünde die Gefahr, dass die Entwicklung der Kinder gefährdet würde sowie auch die, dass sie Erwachsene von ihren Arbeitsplätzen verdrängen.

Sollen Kinder oder Jugendliche jobben? Auch in der deutschen Wohlstandsgesellschaft wächst die Kinderarmut und damit die Gefahr, dass Kinder arbeiten, um ihre Familien finanziell zu unterstützen. Doch ist Kinderarbeit heute ein vielschichtiges Phänomen. Wenn Kinder im Haushalt abwaschen und den Müll runterbringen, ist das für die Forscher auch eine Form der Kinderarbeit und genauso, wenn Kinder ihre alten Spielsachen in der Fußgängerzone verkaufen - mehr um der Langeweile zu entkommen als um Geld zu verdienen. Wer eine Aufgabe im Sportverein übernimmt oder im elterlichen Betrieb unentgeltlich hilft, sammelt auch Arbeitserfahrung - aber unbezahlt und also nicht, um materielle Bedürfnisse zu befriedigen.

Wer aber, wie die Studien es tun, nur nach verbotener Kinderarbeit fragt, erklärt den Arbeitswunsch der Jugendlichen einseitig mit dem Geldverdienen. "Dagegen werden die offensichtlichen Wünsche der Kinder, sich durch ihre Tätigkeit nützlich zu fühlen, mehr Autonomie und soziale Anerkennung zu finden, auf das Geldverdienen eingeschränkt und in ihrer Vielfalt kaum wahrgenommen", meint Liebel. Offenbar hätten immer mehr Teenager Lust, "die als lebensfremd empfundene Schule durch eigene Arbeit außerhalb der Schule zu ergänzen".

Deshalb bezweifelt Liebel, dass die abwehrende Haltung der Regierung zur Arbeit von Jugendlichen noch angemessen ist: "Diese Kinder verdienen mehr Vertrauen in ihre Urteilsfähigkeit. Nur bei einem Bruchteil der heute von Kindern gesuchten und ausgeübten Arbeiten handelt es sich um Ausbeutungsverhältnisse." Kinder seien am besten vor Ausbeutung zu schützen, wenn sie unterstützt würden, sich zu wehren - auch, indem sie sich organisieren: "Für die Gewerkschaften wäre dies ein weites Feld."

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