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Dolmetscherin von Signalen. Therapeutin Marie-Louise Redel mit Hilfsmitteln.

© Thilo Rückeis

Konzentrative Bewegungstherapie: Sprache ohne Worte

Notorische Schmerzen? Essstörungen? Psychosomatische Beschwerden? Bei der Konzentrativen Bewegungstherapie werden die Warnsignale des Körpers zur Heilung eingesetzt.

Marie-Louise Redel hockt auf ihren Knien, mit dem Rücken zur Wand. Sie baut jetzt Mauern, einen Schutzraum, sie will ihre Ruhe. Links stapelt sie Kissen, rote, grüne, gelbe, Schicht für Schicht, eine weiche Mauer. Aber eine Mauer. Rechts platzierte sie Sofapolster, noch eine Mauer. Sie sitzt jetzt zwischen symbolischen Wänden. Sie hat ihre Grenzen markiert, sie fühlt sich geschützt.

In Wirklichkeit hat sie gerade das größte Problem dargestellt.

Denn hinter ihr liegt zwar die Wand, aber vor ihr ist alles offen. Quer zu ihren Knien hat sie keine Mauer gezogen. Und damit verkündet sie visuell als Botschaft: Sie ist offen, man darf ihr nahekommen.

Marie-Louise Redel will aber genau das Gegenteil ausdrücken, mithin: eine beklemmende Situation. Was löst es in einem Menschen aus, dass seine Signale derart fatal missverstanden werden?

Die Lücke in der Mauer überhaupt zu erkennen, das ist Teil der Problemlösung. So funktioniert, unter anderem, Konzentrative Bewegungstherapie, kurz KBT. Eine Methode der Psychotherapie, die sich am Körper orientiert. Wahrnehmung, Bewegung, Fühlen, das alles wird zur Diagnose und zur Therapie genützt.

Der Körper sendet eine Flut von Signalen

Marie Louise Redel erhebt sich, es war nur ein Beispiel. Die 57-Jährige ist Therapeutin, in ihrer Praxis hat sie eine reale Situation ihrer Klienten nachgespielt.

KBT bedeutet, den Körper als Hinweisschild wahrzunehmen. Denn der sendet eine Flut von Signalen. „Die Haltung drückt die Lebenssituation aus“, sagt Redel. Sind die Schultern eingezogen, ist der Rücken gebeugt, sitzt man auf der Vorderkante des Stuhls, haben die Füße dabei nur geringen Bodenkontakt? Alles Signale. Sprache ohne Worte.

Konzentrative Bewegungstherapie hilft Patienten, ihren Körper wahrzunehmen. Sie sollen lernen, seine Botschaften zu erkennen und zu übersetzen. Bei vielen Patienten ist diese Fähigkeit verkümmert, deshalb erleben sie etwas Neues. Im nächsten Schritt entwickeln sie dann Antworten, die Patienten. „Das Besondere hier ist das Spüren und Wahrnehmen des Körpers mit anschließendem Reflektieren“, sagt Marie-Louise Redel.

Die Geschichte mit den Mauern zum Beispiel. Einer Gruppe sagte sie: „Gehen sie dahin, wie sie möchten.“ Ein paar landeten in der Mitte, andere an den Wänden. „Jetzt grenzen sie sich ab.“ Mit Kissen, Polstern, Bällen, Seilen, alles da.

Eine Frau baute dann diese Mauern auf, so wie es Redel demonstriert hatte. Die Vorderseite offen. „Wie nahe können sie ihr kommen?“, fragte die Therapeutin die restlichen Patienten. Übereinstimmende Antwort: ziemlich nahe. Die knieende Frau war perplex. Im Geiste hatte sie auch vor sich eine Mauer gezogen und automatisch angenommen, dass die auch für andere sichtbar sei.

Nun aber, in dieser Praxis in Schöneberg, lernte sie, weshalb auch in ihrem Alltag so vieles schieflief. Marie-Louise Redel half ihr, das Beispiel für den Alltag zu übersetzen. Die Patientin fühlte sich im Büro bedrängt, immer wollte jemand etwas von ihr. Dabei demonstrierte sie doch mimisch und körperlich, dass sie ihre Ruhe wollte. Dachte sie zumindest. In Wirklichkeit lud sie die Umwelt ein.

In ganz Berlin gibt es nur sieben KBT-Therapeutinnen

Dolmetscherin von Signalen. Therapeutin Marie-Louise Redel mit Hilfsmitteln.
Dolmetscherin von Signalen. Therapeutin Marie-Louise Redel mit Hilfsmitteln.

© Thilo Rückeis

Seit 16 Jahren arbeitet Marie-Louise Redel in der KBT, zudem noch als Supervisorin und – für Privatpatienten – als Physiotherapeutin. Sie ist eine von nur sieben ambulanten KBT-Therapeuten und -Therapeutinnen, die es in Berlin gibt. Zu ihr kommen Patienten mit Rückenbeschwerden, Essstörungen, notorischen Schmerzen, psychosomatischen Beschwerden, neurotischen Störungen, Menschen, bei den viele Therapien nicht angeschlagen und die KTB in einer Klinik schätzen gelernt haben.

Bei Redel arbeiten sie mit ihrem Körper. Und damit zum Beispiel mit Hilfe von Sandsäckchen, die auf den Heizkörpern liegen. Die Therapeutin nimmt einen, vielleicht faustgroß, wieder eine Demonstration. Ihren Patienten hatte sie gesagt: „Legen sie sich für jedes ihrer Probleme eines auf die Schulter.“ Die Last wurde bei einigen immer größer. Eine Frau achtete sorgsam, fast zwanghaft darauf, dass die Säckchen gleichwertig verteilt waren, dass jede Frau gleich viel zu tragen hatte. Sie ahnte nicht, dass sie damit ihr Problem dargestellt hatte.

„Haben Sie gemerkt, was Sie gerade gemacht haben?“, fragte Redel.

„Ich habe das gemacht, was ich in meiner Familie auch tue, alles ausgleichen.“

Sie hätte es auch ohne Sandsäckchen sagen können. Aber es hätte nicht die gleiche Wirkung gehabt.

Last und Verantwortung sollen gerecht verteilt werden, ja keine Schieflagen, eine kraftraubende Aufgabe. Und deshalb platzte die Patientin mit ihrem Frust geradezu heraus. Redel fragte: „Glauben Sie, dass Sie Ausgleich wirklich schaffen können?“ Die Antwort liegt auf der Hand.

Natürlich hätte Marie-Louise Redel das Gleiche auch ohne Sandsäckchen sagen können. Aber es hätte nicht die gleiche Wirkung gehabt. Erst durch dieses plastische Beispiel bekam die Patientin Zugang zu dem Problem. Ein Trainer im Kinderfußball kann eine Übung zigmal vormachen. Der Lerneffekt tritt erst dann ein, wenn das Kind selbst den Ball spielt.

Einmal sollten die Patienten auf Decken einfach legen, was ihnen gefällt. Bald war der Boden übersät von Kissen, Bällen, Seilen. Nur die Decke einer Patientin war quasi leer. Wer genau hinsah, konnte, halb verdeckt, etwas Kleines entdecken. Eine Brosche. Sekunden später umringte die Gruppe die Frau und ihre Brosche, getrieben von der Neugier.

Die Patientin registrierte es erschrocken, fast verzweifelt. „Das ist ja wie bei mir zu Hause. Da sind alle immer bei mir. Dabei hatte ich immer signalisiert, dass ich meine Ruhe will.“ Ja, schon, erwiderte die Therapeutin, „aber was machen Sie instinktiv, dass immer alle zu Ihnen kommen?“ Gerade der Versuch, die Brosche zu verbergen, hatte die Neugier angefacht. Die Patientin hat nun Stoff zum Nachdenken. Was hat sie bisher gemacht? Was kann sie verändern? Sie hat das Problem erkannt, das ist schon mal der wichtigste Schritt.

Auf ähnliche Weise lernen Schmerzpatienten, dass ihr Leiden ein Hinweis ihres Körpers ist. Ein Zeichen völliger Überforderung. Ein paar Probleme anders zu bewerten, nicht alles im Hysterie-Modus zu sehen, kann Schmerzen verringern.

Aber letztlich liegt der Erfolg bei den Patienten selbst. „Die Menschen sollen verstehen, warum sie Schmerzen haben und was sie verstärkt oder verringert“, sagt Marie-Louise Redel. Mehr können sie nicht erwarten. „Ich verspreche nicht“, sagt die Therapeutin fast bedauernd, „dass die Schmerzen weggehen.“

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