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Gesundheit: Krankgeschrumpft - Das britische Gesundheitssystem ist überfordert (Analyse)

Im britischen Königreich geht die Panik um. Nigel Tranter, der berühmte schottische Schriftsteller und Historiker, war immerhin schon neunzig, als ihn die Grippe dahinraffte.

Im britischen Königreich geht die Panik um. Nigel Tranter, der berühmte schottische Schriftsteller und Historiker, war immerhin schon neunzig, als ihn die Grippe dahinraffte. Spätestens seit dem Tod des 33-jährigen Rugby-Idols Kieron Gregory hat die Influenza jedoch klargemacht, dass sich vor ihr niemand in Sicherheit wägen kann. Das Londoner Gesundheitsministerium spricht bereits von der "schwersten Grippe-Epidemie seit zehn Jahren".

Tatsächlich ist die gegenwärtige Grippewelle auf der Insel jedoch mit einer weltweiten Epidemie nicht zu vergleichen. Die Zahl von 300 Infizierten pro 100 000 Einwohner bleibt sogar unter der amtlichen Definition einer "Epidemie", die in England bei 0,4 und in Schottland bei 1,0 Prozent liegt.

Vielmehr steckt der "Millenium-Bug", wie das Influenza-Virus von der Presse bereits genannt wird, im britischen Gesundheitssystem selbst. Schwerkranke werden in Stühlen behandelt und Notfälle von überfüllten Kliniken abgewiesen, weil der seit Jahren krankgeschrumpfte staatliche Gesundheitsdienst NHS (National Health Service) mit einer, zugegeben schweren, Grippewelle nicht fertig wird. Um Kosten zu reduzieren, wurden in der Vergangenheit Aufgaben und Finanzmittel von den Krankenhäusern zu den niedergelassenen Allgemeinärzten umverteilt. Geschlossene Stationen, Personalmangel und schlechte Bezahlung haben das Image des NHS schwer beschädigt. Weil qualifiziertes Pflegepersonal von den Privatkliniken abgeworben wird, fehlen laut Regierungsangaben dem staatlichen Gesundheisdienst derzeit allein 15 000 Krankenschwestern.

Da verwundert es nicht, dass angegriffene Politiker, wie die schottische Gesundheitsministerin Susan Deacon, das derzeitige Chaos gerne mit einer "ernsten Epidemie" begründen wollen. Ob sich tatsächlich noch eine Epidemie entwickelt, werden die Zahlen der nächsten Tage ergeben.

Wie bei der Erdbebenvorhersage registriert ein weltweites Beobachtungsnetz von Speziallaboratorien minutiös Erkrankungszahlen und Virustypen, um das Heranrollen einer Epidemie rechtzeitig zu erkennen. Das Grippevirus, das sich in diesem Winter in Mitteleuropa und Nordamerika zum dritten Mal vergleichsweise heftig verbreitet, ist jedoch ein alter Bekannter. Es handelt sich um das Influenza-A Virus vom Typ H3N2, das in den (nach dem Ort ihrer ersten Isolation benannten) Varianten "Sydney" und "Moskau" vorkommt. Da "Sydney" bereits seine dritte Saison eröffnet, ist ein Teil der Bevölkerung durch durchgemachte Infektionen mehr oder minder immun. Und dank der richtigen Vorhersage der Virus-Seismologen ist "Sydney" auch in den aktuellen Impfstoffen enthalten. Die in dieser Saison hinzugekommene, sehr ähnliche Variante "Moskau" kann bei Menschen, die gegen "Sydney" immun sind, höchstens ein abgeschwächtes Krankheitsbild hervorrufen. Die rechtzeitige Impfung hat sich also auch diesmal gelohnt. Leider können sich darüber in den alten Bundesländern nur 16 Prozent, in den neuen Bundesländern immerhin 32 Prozent der Bürger freuen.

Trotzdem bleibt das Grippevirus der gefährlichste biologische Feind des Menschen. Weltweite Epidemien (Pandemien) mit Millionen von Todesopfern, wie sie im vergangenen Jahrhundert dreimal vorkamen, können sich jederzeit wiederholen. Die "asiatische Grippe" von 1957 benötigte ein halbes Jahr, um sich von China in die USA auszubreiten. Heute läge die Vorwarnzeit wahrscheinlich unter sieben Tagen.

Als 1998 in Hongkong ein vollkommen neues, aggressives Grippevirus auftauchte, hielten daher die Virologen weltweit den Atem an. Gegen den von Hühnern übertragenen, bis dahin unbekannten Typ H5N1 besitzt der Mensch keinerlei Immunität, sechs der 18 Infizierten starben innerhalb weniger Tage. Zum Glück stellte sich heraus, dass H5N1 nur durch direkten Kontakt mit Hühnern und nicht von Mensch zu Mensch übertragen wird.

Dem Aufruf der Weltgesundheitsorganisation von 1997, Alarmpläne für die nächste Grippe-Pandemie zu entwerfen, sind bisher ganze 12 Staaten gefolgt. Wann der in Deutschland seit Jahren bearbeitete Katastrophenplan fertig sein wird, ist noch unklar. Sicher ist jedoch, dass die Grippe eines Tages wieder zuschlagen wird.Der Autor ist Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Alexander S. Kekulé

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