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Gesundheit: Krankheit mit vielen Gesichtern

Bei der Multiplen Sklerose attackiert das Immunsystem die Nervenleitungen. Neue Wirkstoffe können schützen

MULTIPLE SKLEROSE – WIE DIE IMMUNKRANKHEIT ENTSTEHT UND WIE SIE SICH BEHANDELN LÄSST

„Lidwina von Schiedam war die erste Frau, die an Multipler Sklerose (MS) erkrankt ist“, sagt Ralph Gold. Jedenfalls sind die Beschwerden der niederländischen Mystikerin aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts so beschrieben, dass es sich um die Autoimmunkrankheit handeln könnte. Erstmals medizinisch exakt diagnostiziert worden sei das Leiden 1868 in Paris, sagt der Leiter des jetzt eröffneten Instituts für Multiple-Sklerose-Forschung der Universität Göttingen.

Fast eineinhalb Jahrhunderte später gibt es Hoffnung, die Krankheit endlich zu durchschauen. Immer mehr Forscher beschäftigen sich mit dem Geschehen in Gehirn und Rückenmark, das Nervenleitungen unterbricht und zum Ausfall wichtiger Funktionen führt. So auch das Team um die Medizinerin Frauke Zipp vom Institut für Neuroimmunologie an der Berliner Charité. Dort setzt man auf Statine. Diese Cholesterinsenker, Substanzen also, die den Fettgehalt des Bluts reduzieren, sollen auch in die zerstörerischen Prozesse eingreifen können.

Davon könnte vielleicht auch Margarete Scheer profitieren, die sich vor knapp 18 Jahren über ein pelziges Gefühl im Bein wunderte. „Zuviel Sport in letzter Zeit“, dachte die damals Zwanzigjährige. Der Schock war groß für die jung verheiratete Datentypistin, als die Diagnose feststand: „Multiple Sklerose“. „Ich sah mich schon im Rollstuhl“, sagt sie. Und so schien es auch zu kommen. Bis zu 15 Krankheitsschübe im Jahr und keine wirksamen Medikamente. Doch heute fährt Scheer Fahrrad, schwimmt viel und versorgt den Garten. Sie arbeitet Teilzeit. Bei ihr hatte die Therapie mit Betaferon angeschlagen, dem ersten Interferon gegen MS, das auf den Markt kam. Doch die Wirkung der Interferone ist meist zeitlich begrenzt.

„Das Leben geht weiter“, sagt Doris Gabler. Sie klingt resigniert. Ihr Mann ist im Pflegeheim. Vor 15 Jahren war bei dem damals 32-jährigen Wissenschaftler die Diagnose gestellt worden. Schwierigkeiten beim Sehen hatten ihn zum Arzt geführt. Magnetresonanz-Aufnahmen des Gehirns brachten Klarheit. Sie zeigten Stellen entzündeten und bereits zerstörten Gewebes. Die Krankheit verschlimmerte sich weiter. Medikamente, die diese „primär-progrediente“ MS–Form aufhalten könnten, gab es nicht.

Das sind zwei Beispiele – es gäbe unzählige mehr. Genauso viele, wie es MS-Kranke gibt, denn bei jedem verläuft die Autoimmunkrankheit ein wenig anders. Als Ursache gilt ein Mix aus genetischer Veranlagung und Umwelteinflüssen. In der Regel beginnt die Krankheit zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr. Weltweit sind schätzungsweise zweieinhalb Millionen Menschen erkrankt, in Deutschland etwa 120000. Frauen trifft es doppelt so häufig wie Männer.

Die Beschwerden gehen auf Schäden im Zentralen Nervensystem zurück. Die neurologischen Ausfälle können je nach Zahl und Lage dieser zerstörten Bereiche ganz unterschiedlich sein. Ausgangspunkt sind Attacken des Immunsystems gegen den eigenen Körper. Die Myelinhülle, die die Nervenfasern schützt, wird dabei zerstört.

Nervenimpulse können nicht mehr richtig weitergeleitet werden. Seh- und Sprachstörungen, Schwindel, Taubheitsgefühl oder Lähmungserscheinungen treten auf.

Eine ursächliche Therapie gibt es nicht und somit keine Aussicht auf Heilung. Allerdings gibt es bereits wirksame Medikamente, die das Immunsystem günstig beeinflussen können (s. Kasten). Nun arbeiten Forscher daran, die aggressiven Zellen bereits am Überwinden der Blut-Hirn-Schranke zu hindern. Hoffnungen setzt der Göttinger Neurologe Gold dabei in den monoklonalen Antikörper „Natalizumab“. Studien brachten positive Ergebnisse: Der Hersteller wird die europäische Zulassung im Sommer 2004 beantragen.

Ebenfalls hemmend auf Immunzellen wirken die Statine. Bei Mäusen funktioniert dies bereits, wie die Charité-Forscher herausgefunden haben. Den Nagern war die „chronisch experimentelle Autoimmunenzephalitis“ eingeimpft worden, eine Krankheit, die ähnlich verläuft wie MS. Nach der Gabe des Wirkstoffs „Atorvastatin“ schwächten sich typische Symptome wie Lähmungen ab. Auch die Schübe wurden weniger.

Wie Zipps Mitarbeiter Orhan Aktas zeigte, werden die Immunzellen durch die Statine beim Wachsen und Vermehren behindert. Zudem werden weniger Substanzen frei, die die Entzündung fördern, und mehr Stoffe, die den Schadensprozess hemmen.

Dass auch menschliche Zellen zumindest in der Retorte in ähnlicher Weise auf Atorvastatin reagieren, hat das Zipp-Team bereits nachgewiesen. Ob Statine auch für Vorbeugung und Therapie dienen könnten, müssen klinische Tests erst zeigen. „Ende letzten Jahres haben wir mit einer Studie begonnen“, sagt Zipp. Insgesamt 50 Probanden sollen teilnehmen. Die Ergebnisse erwartet die Neurologin in etwa zwei Jahren.

Andere Resultate aus Zipps Team sind bereits zur Therapie nützlich. Denn die wichtigsten Medikamente zur Behandlung der MS schlagen jeweils nur etwa bei einem Drittel der Patienten an. Die Ärzte müssen erst ausprobieren, wer auf welches Medikament anspricht.

Das belastet die Patienten. Wertvolle Zeit kann für die richtige Behandlung verloren gehen. Zudem fallen unnütz hohe Kosten an. „Wir haben einen Marker gefunden, der die Wirksamkeit von Beta-Interferon anzeigen kann“, sagt Zipp. Ein einfacher Bluttest genüge. Dabei werde das Protein „Trail“ gemessen, das gegen Entzündungen wirke.

Paul Janositz

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