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Gesundheit: „Männer sind auch Opfer“

Etwas mehr Mitgefühl, bitte: ein Gespräch mit dem Männerforscher Walter Hollstein

In letzter Zeit hört man vom männlichen Geschlecht fast nur Schlimmes: Jungen haben es in der Schule schwerer als Mädchen, getrennte Väter müssen um den Zugang zu ihren Kindern kämpfen, geschiedene Männer werden abgezockt … Müssen wir jetzt mit den Männern Mitleid haben?

Eins ist klar: Männer besetzen immer noch den größten Teil der Führungspositionen, verfügen über mehr Geld als Frauen etc. Was dabei aber aus dem Blick gerät: Männer sind auch Opfer ihrer Rolle. Besonders deutlich wird das in den Bereichen Bildung und Gesundheit. Jungen stellen in der Tat die Mehrheit von Schulversagern, Problemkindern und Frühkriminellen. Männer sterben dreimal häufiger bei Suiziden und an Lungenkrebs, zweimal häufiger an Diabetes und infektiösen Erkrankungen, fünfmal häufiger bei Verkehrsunfällen …

Aber da sind sie doch selber schuld! Niemand zwingt sie, rasant zu fahren.

Von außen mag das so erscheinen. Aber der Druck, ein cooler Held zu sein und leichtsinnig Auto zu fahren, hängt eben mit der traditionellen Männerrolle zusammen. Mitleid mit ihnen braucht es nicht; aber etwas mehr öffentliche Empathie wäre nicht schlecht.

Warum gibt es diese öffentliche Empathie erst in der letzten Zeit, wenn überhaupt?

Zum einen sehen sich Männer selbst ja nicht gerne als Opfer. Das widerspricht ihrem antrainierten Rollenbild von Erfolg, Sieg und Leistung. Aber auch der Feminismus hat seinen Anteil daran, dass die Opferrolle der Männer nicht wahrgenommen wird. Feministinnen haben einen Popanz vom angeblich starken Mann aufgebaut. In Wirklichkeit entsprechen diesem Bild aber nur ganz wenige Männer, aber die anderen leiden darunter. Für normale Männer hat die traditionelle Rolle mehr Nachteile als Vorteile: Sie hindert sie daran, zum ganzen Menschen zu werden, der auch Gefühle und Schwächen zeigen kann.

Vor über zehn Jahren haben Sie ein „Spiegel“-Interview gegeben, und die erste Frage lautete: Ist über das Thema nicht schon alles gesagt?

Das stimmte damals schon nicht, und es stimmt auch heute nicht. Wir werden noch viele Umbrüche im Denken über die Geschlechter erleben. Das zeigt sich beim Thema der männlichen Benachteiligungen. Beispiel deutsche Gesundheitspolitik: Es gibt einen Frauengesundheitsbericht, aber keinen Männergesundheitsbericht. Gesundheitsprävention für Männer ist im höchsten Grade defizitär. Die Einstiegsaltersgrenze für die Hautkrebsfrüherkennung liegt bei Frauen um 15 Jahre niedriger als die der Männer, obwohl viel mehr Männer an Krebs erkranken und sterben. Bei Aids-Kampagnen des Bundesgesundheitsministeriums werden Männer und Jungen ausgegrenzt. Die schlechte Gesundheitssituation von Trennungsvätern ist in Deutschland noch gar kein Thema und so weiter. Es gäbe also viel zu tun. Die Männerforschung steckt ja noch in den Anfängen.

Warum überhaupt „Männerforschung“? Die Frauenforscherinnen nennen sich ja auch eher „Geschlechterforscherinnen“ – weil man das eine Geschlecht nicht ohne Blick auf das andere erforschen kann.

Aber wenn Sie genau hingucken, stellen Sie fest: Hinter „Geschlechterforschung“ verbirgt sich hierzulande fast immer Frauenforschung. Die Lebenswelten von Frauen sind viel besser erforscht als die von Männern. Es gibt im deutschsprachigen Raum etwa 200 Professuren für Frauen- und Geschlechterforschung, aber keine für Männerforschung.

Dafür befassen sich die Professoren der meisten anderen Fachbereiche mit ihren Themen zumeist aus männlicher Sicht.

Das mag sein, aber es geschieht unreflektiert. Traditionell denkende Wissenschaftler thematisieren ja ihre männliche Perspektive nicht. In anderen Ländern schaut das seit langem anders aus. In Skandinavien zum Beispiel ist Frauenpolitik von männerpolitischen Maßnahmen begleitet worden. Selbst im konservativen Österreich gibt es eine „Männerpolitische Grundsatzabteilung“ im Bundesministerium für soziale Sicherheit – und einen Männergesundheitsbericht. Der Staat hat die gleiche Verantwortung den Männern wie den Frauen gegenüber und muss genauso Studien in Auftrag geben, die die Welt von Männern erforschen.

Kann man überhaupt definieren, was das ist: ein richtiger Mann?

Was „richtig“ bedeutet, muss jeder für sich definieren, es gibt keine allgemeine Definition. Nehmen Sie traditionell männliche Eigenschaften wie Entscheidungsfreude, Verantwortlichkeit, Pioniergeist – die können auch auf Frauen zutreffen. Sicher gibt es genetische Unterschiede …

Etwa: Männer können nicht zuhören, Frauen können nicht einparken …

Das sind nur reaktionäre Buchtitel, die beiden Geschlechtern ein Alibi geben, nichts an sich zu verändern. Ich meine: Es gibt genetische Dispositionen – aber entscheidend ist, was wir damit anfangen. Ich kann als Mann eine Befriedigung darin finden, mich um mein Kind zu kümmern. Ich wünsche mir, dass eine offene Männlichkeit entsteht, die integriert, was auf Frauen projiziert wird: Gefühle, Kinder, Spontaneität. Frauen haben sich ein breiteres Spektrum an Lebensmöglichkeiten erkämpft als Männer. Da müssen die Männer nachholen. Die Chance haben wir jetzt.

Das Gespräch führte Dorothee Nolte.

Walter Hollstein (64) war bis zu seiner Emeritierung Professor am Institut für Geschlechter- und Generationenforschung der Universität Bremen. Der Soziologe lebt in Berlin.

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