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Mann ohne Identität: Amnesie: Das Loch im Kopf

Karl Frankfurt nennen die Ärzte ihn – aber keiner weiß, wer er wirklich ist. Die Geschichte einer Amnesie

Der Mann, der sich Karl Frankfurt nennt, ist offenbar kein unglücklicher Mensch. Er ist reich, sagt er, die Frauen lieben ihn, und er wohnt in einer Villa, die man eigens nach seinen Wünschen erbaut hat. Sie steht im Wald, und wenn er aus dem Fenster schaut, sieht er eine Landschaft wie in Grimms Märchen, mit rauschenden Buchen und malerischen Dörfern und Menschen, die aussehen, als gäbe es keine Zeit. Das einzige, was das Bild stört, sind die Papierstreifen, die Frankfurt von innen ans Fenster geklebt hat. Es sind viele Papierstreifen, und sie sind eng beschriftet mit geheimnisvollen Buchstaben.

Ein Gestrüpp von Hieroglyphen ist da gewachsen, es wuchert auch im Zimmer weiter, auf Papierbögen und Bildern, die Karl Frankfurt hier anfertigt. Es sind feine Zeichnungen von Rennautos, mal ein Porsche, mal ein Bentley, und manche von ihnen haben Türen wie Flügel. „Ich entwerfe den Wagen, und die stellen ihn dann her.“ Die, das sind seine Angestellten. Karl Frankfurt hat viele Angestellte, sagt er, er hat auch sehr viel Geld irgendwo, schließlich ist er Chef von Daimler-Chrysler, Erbe der Firma Porsche und Aufsichtsratsvorsitzender von Deutscher und Dresdner Bank. Nur, dass ihm das keiner glaubt.

Die Menschen, die Karl Frankfurt umgeben, scheinen überhaupt in einer etwas anderen Welt zu leben. Manchmal gucken sie ihn so komisch an, und manchmal schicken sie ihm jetzt Reporter. Karl Frankfurt macht dann lächelnd die Zimmertür auf, ein kleiner Herr mit hellen Augen und einer Frisur, die aussieht, als hätte der Sturm an einem alternden Rockstar gerissen. Er ist etwa 60 Jahre alt, schätzt der Heimleiter. Er stammt aus Mittelengland, glaubt der Sprachwissenschaftler. Er leidet unter einer seltenen Form der Amnesie, meinen die Ärzte. Es gibt keinen Hinweis, dass er simuliert, sagt die Polizei. Ganz genau weiß das allerdings keiner.

Der Mann, der sich Karl Frankfurt nennt, ist als „Mann ohne Gedächtnis“ bekannt geworden, und seit 14 Monaten hält er die Behörden im Raum Heidelberg auf Trab. Am 9. Juni vergangenen Jahres tauchte er da auf und klingelte bei der Polizei am Mannheimer Hauptbahnhof. Er hatte kein Geld, keinen Pass und lieferte keine Hinweise auf das, was man eine Identität nennt. Karl Frankfurt brauchte nicht lange zu reden, da haben sie ihn in die Psychiatrie gebracht. Als man auch da nichts mehr für ihn tun konnte, wies man ihn in ein Seniorenheim im Odenwald ein. Da wohnt er jetzt, und er wirkt wie einer, der endlich angekommen ist. Nur eben nicht in der Wirklichkeit.

Amnesie, das ist eine Art Loch im Gedächtnis, eine Erinnerungslücke, die durch einen Unfall, eine Verletzung oder ein psychisches Trauma entstehen kann. Manchmal löscht das Gehirn die Spuren eines unangenehmen Augenblicks, manchmal verschwindet auch ein halbes Leben im Nebel, und die Menschen, denen dieses Leben gehört hat, gehen oft auf eine verzweifelte Suche nach sich selbst. Was sie nicht finden, erfinden manche, Konfabulation heißt das. Es ist der Versuch, das Loch im Kopf mit Worten zu füllen.

Karl Frankfurt macht eine einladende Bewegung zu seinem Tisch in Zimmer 19. Er lebt jetzt bald ein Jahr im Haus am Brunnen in Heiligkreuzsteinach, auf dessen Flurwänden fröhliche Buntwesen aus Styropor tanzen. Im Aufenthaltsraum sitzen Menschen, die es wohl aufgegeben haben, irgendjemandem irgendwas zu erklären. Karl Frankfurt ist da anders, es sprudelt nur so aus ihm heraus, auf Englisch, und er wirkt konzentriert und souverän.

Mit sechs hat er den Nobelpreis gekriegt, sagt er, für eine Erfindung in der Petrochemie. Kurz danach haben sie ihn nach Los Alamos geholt, diesen Ort in der Wüste Neu-Mexikos, an dem die Amerikaner Kernwaffen testen. „Ich bin da hingegangen, um bakteriologische Krankheiten zu zerstören.“ Er rückt eine Tabakdose zurecht, aus der er, die Hände in der Luft, einen Atompilz aufsteigen lässt. Karl Frankfurt kennt Jahreszahlen, Namen, Kampfstoffe. Er sei ein Genie und kannte viele berühmte Leute, sagt er, „aber die waren gar nicht die, die sie behauptet haben zu sein, die haben nur ein Drehbuch auswendig gelernt“.

Woran merkt man eigentlich, was die wahre Identität einer Person ist? Recherche, sagt er, das ist doch die Aufgabe von Journalisten. Man braucht nur einen Blick ins Internet zu werfen, erzählt er vergnügt, dann sieht man sofort, dass er Jerry Garcia ist, der Leadgitarrist von Grateful Dead. So ein Typ mit Mähne und Rauschebart? Ist der nicht tot? „Er sitzt vor Ihnen.“

Der „Mann ohne Gedächtnis“ kennt das Internet, er weiß, was ein Laptop ist und was ein iPod. Er wirkt intelligent und gebildet und spricht im etwas gestelzten Englisch der britischen Mittel- und Oberschicht. Seine Eltern waren reich, sagt er, und seine Frauen stammten aus den allerbesten Familien. Wie kommt es dann, dass er jetzt hier sitzt, mit schlechten Zähnen und ohne Geld? „Meine Amnesie ist physisch und psychisch“, sagt er. Er kenne sich da aus, sei Psychologe. „Es könnte ein Sonnenstich gewesen sein. Oder als ich hingefallen bin. Oder Ärger.“

Es ist keine tastende Suche nach Erinnerungsinseln, die sich in Karl Frankfurt abzuspielen scheint. Dieser Mann hat offenbar gefunden, er weiß Bescheid, und wer versucht aufzuspüren, was ihn umtreibt, der stößt nicht auf Verzweiflung, sondern höchstens auf Wut. Besonders ärgerlich wird er, wenn jemand bezweifelt, dass er, der Rockstar Jerry Garcia, Flottenadmiral bei der US-Navy war. „Ich mag keine Leute, die die Wahrheit nicht herausfinden“, schimpft er. Jetzt sieht er aus, als wollte er aufspringen und gehen.

Ralf Steigleder ist ein freundlicher Mensch, er leitet das Haus am Brunnen und gehört zur Schar derer, die versuchen, das verlorene Ich des Karl Frankfurt wiederzufinden. Als sein englischer Patient mal eines seiner Bilder mit „Karl Rene Magritte“ signierte, setzte sich Steigleder gleich an den Computer, um den Namen zu googlen. Ohne Ergebnis. Vielleicht ist er ja vor irgendwas davongelaufen, sagt er. Vielleicht will er ein schreckliches Erlebnis vergessen. Und wenn er nur abtaucht hier im stillen Odenwald? Wenn er simuliert? Steigleder guckt ein wenig unglücklich. „Der Gedanke war schon da“, sagt er vorsichtig. „Aber ich seh’ mal davon ab. Ich habe da nicht die kleinsten Hinweise.“

Bei der Kriminalpolizei Heidelberg sehen sie das ähnlich. „Karlchen“ nennt ein Beamter hier liebevoll den Fall, dem er schon manche Arbeitsstunde gewidmet hat. Nein, sagt er, es gibt keinen Anhaltspunkt, dass der Mann ohne Vergangenheit eine kriminelle hat. Um ihn zu identifizieren, hat die Polizei Interpol und die Presse eingeschaltet. Es wurden DNA-Proben entnommen, der Zahnstatus ermittelt, Fingerabdrücke in die USA verschickt. Nichts. Es hat sich auch niemand gemeldet, der ihn vermisst. Jetzt wird versucht, sein rotes T-Shirt von einer Fabrik in den USA bis zum Verkaufsort zu verfolgen. Doch, sagt der Beamte, das kostet. Wie auch das Heim. Das allein um die 12 000 Euro im Jahr.

Könnte es sein, dass Karl Frankfurt schlauer ist als alle, die versuchen ihm zu helfen? Es gab mal einen ähnlichen Fall, den „pianoman“ in England, den man am Strand fand. Er sprach kein Wort, aber spielte genial Klavier, jedenfalls haben das die Journalisten behauptet. Bis sich herausstellte, dass er nur eine Taste anschlug, von einem Hof in Bayern stammte und wohl ein Problem damit hatte, schwul zu sein.

Zum nächsten Experten also, einem für die Seele. Helmut Vedder ist Chefarzt im Psychiatrischen Zentrum Nordbaden, und er hat Karl Frankfurt monatelang behandelt. „Es stellt sich im Moment so dar, dass eine Gedächtnisstörung und eine psychische Krankheit vorliegen“, sagt der Psychiater. Vedder hat es selten erlebt, dass ein Patient keinerlei Erinnerung ans Gestern hat, sich im Heute aber ohne großen Leidensdruck zurechtfindet. „Ausschließen, dass dem etwas anderes zugrunde liegt, kann man natürlich nicht“, sagt er. Realität, wird er später sagen, das ist eine Art „Einigungsgprozess“. Sie entsteht, wenn die Menschen abgleichen, was sie wahrnehmen. Es muss nicht immer übereinstimmen.

Karl Frankfurt im Haus am Brunnen im Odenwald hat einen langen Papierstreifen auf den Tisch gelegt und schreibt. „Karl Vincent Frankfurt Nimitz Raidar“. Er schiebt den Streifen über den Tisch. „Das ist mein Name. Rufen Sie meinen Agenten an. Irgendjemand muss meine Akte entschlüsseln.“ „Sie“ werden ihn hier rausholen, da ist er ganz sicher, „sie“ tun das immer. Er muss sich endlich um seine Konten kümmern, und er wüsste auch gern, wo seine Frau geblieben ist. Vorhin war sie noch hier bei ihm.

Constanze von Bullion[Heiligkreuzsteinach, Odenwald]

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