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Hess

© Heerde

Massenimpfungen: "Man therapiert die öffentliche Sorge"

Bei Pandemien und Massenimpfungen gibt es immer große Aufregung in der Bevölkerung. Und zwar nicht erst seit der Schweinegrippe. Medizinhistoriker Volker Hess weiß, warum das so ist.

Seit Mitte Juni steckten sich in Berlin 676 Menschen mit dem H1N1-Virus an. In ganz Deutschland waren es 22 000. In Nordrhein-Westfalen und Bayern gab es sogar zwei Todesfälle, die mit der als Schweinegrippe bekannten Influenza zusammenhängen. Soeben ist das Impfkonzept gegen den Virus vorgestellt worden. Ab 19. Oktober werden bundesweit Impfampullen verteilt und am 26. Oktober beginnen die Impfungen für besonders gefährdete Gruppen – wie etwa Schwangere, chronisch Kranke und medizinisches Personal. Berlin erhält etwa zwei Millionen der bundesweit 50 Millionen bestellten Spritzen. Das Thema sorgt für Aufregung. Medizinhistoriker Volker Hess erklärt, wie sich Pandemien wie die Schweinegrippe und die dazugehörigen Massenimpfungen in der Gesellschaft auswirken. Er forscht an der Charité über ähnliche Phänomene in den vergangenen Jahrhunderten.

Herr Hess, halten Sie die Bereitstellung von 50 Millionen Impfdosen für übertrieben?

Nein, man therapiert damit ja nicht nur die Schweinegrippe, sondern auch die öffentliche Sorge. Das sollte man nicht unterschätzen. Wenn es darum geht, eine allgemeine Aufregung zu unterbinden, dann sind ein paar Millionen Euro für ein Staatswesen dieser Größe nicht viel Geld.

Warum gibt es bei Pandemien jedes Mal eine so große Aufregung?

In der Wahrnehmung und Verarbeitung der Schweinegrippe schwingt nach wie vor ein Muster mit, das immer wieder bedient wird. Es ist ja nicht so, dass eine Erfahrung ewig hält, sondern sie tritt in Austausch mit neuen Erfahrungen und wird adaptiert. Es kann durchaus gesund sein, wenn eine Gesellschaft in Hab-Acht-Stellung geht und sagt: Da kommt möglicherweise etwas, das uns in unserer Existenz bedroht. Diese überschießende Reaktion ist natürlich nicht mehr angebracht, aber ich würde es nicht als Hype verstehen, sondern als eine kulturelle Erwartungshaltung. Das, was auftaucht, wird nach bestehenden Mustern verarbeitet.

Es gibt also Muster in der öffentlichen Reaktion auf eine Pandemie, die sich seit Jahrhunderten immer wiederholen?

Es gibt die These von Mentalitätshistorikern, dass unsere Einstellung und unser Verhalten gegenüber Seuchen maßgeblich geprägt worden ist von der Erfahrung mit den großen Seuchenzügen des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit. Während der Pest sind in Europa schätzungsweise 25 Millionen Menschen gestorben. Das war ein Drittel bis die Hälfte der Bevölkerung. Man muss sich vor Augen halten, was es heißt, wenn plötzlich jeder Dritte weg ist - für das Funktionieren einer Gemeinschaft, für eine auch damals schon in Ansätzen arbeitsteilige Wirtschaft, für die Familienverbände.

Wie hat die mittelalterliche Gesellschaft darauf regiert?

Die Handlungsmuster waren überall in Europa ähnlich: Fliehen, Unterbinden von Verkehrsströmen, Absperren, Dichtmachen und die Errichtung eines Isolationsgebietes. Die Leute fliehen aufs Land, was die Obrigkeit zu verhindern sucht, damit die Infrastruktur in den Städten nicht völlig zusammenbricht. Man markiert die Häuser derer, die krank sind, und versucht, die Leichen aus dem Haus zu schaffen, Massengräber anzulegen, Bittprozessionen abzuhalten.

Aber heute flieht niemand mehr aufs Land, oder?

Weil es bei uns keine ländliche Idylle mehr gibt. In Entwicklungsländern ist das noch anders. Aber auch bei uns diskutiert man, ob man den Flugverkehr unterbinden, also in die Verkehrsströme eingreifen soll. Und Quarantäne gibt es natürlich immer noch.

Unser Handeln wird also geprägt von Mustern, die vor 500 Jahren entstanden sind, ohne dass uns das bewusst ist?

Es wäre falsch zu glauben, dass unser Handeln direkt geprägt ist durch spätmittelalterliche Erfahrungen. Aber im kulturellen Gedächtnis sind diese alten Erfahrungen präsent und schwingen immer mit. Und können bei Bedarf sehr schnell aufgerufen und mobilisiert werden – allerdings in modifizierter Form. Denn die westlichen Gesellschaften haben in den letzten 200 Jahren durchaus erfolgreiche Strategien entwickelt, mit Epidemien – Syphilis, Cholera – umgehen zu können. Diese Erfahrung erfolgreicher Strategien schreibt sich natürlich auch ins Handeln ein.

Wie hat die Einführung der Impfung unsere Haltung gegenüber Seuchen verändert?

Sie hat sie enorm verändert. Man muss sich vorstellen, welches Aufsehen die Kuhpockenimpfung im ausgehenden 18. Jahrhundert erregt: Edward Jenner stellte 1796 in England fest, dass Mägde, die mit den milden Kuhpockenerregern infiziert waren, nicht an den richtigen Pocken erkrankten, und daraus abgeleitet, dass die absichtliche Infizierung mit milden Erregern, eine hilfreiche Strategie ist. Das setzte sich mehr oder weniger flächendeckend in Europa innerhalb von 15 Jahren durch.

Handelte ist sich dabei überall um eine Zwangsimpfung?

In den meisten Staaten gab es einen direkten oder indirekten Zwang, etwa dass eine Heirat nur mit vorheriger Impfung möglich war. Das war der preußische Weg. Immer wenn der Staat mit dem Bürger in Berührung kam – Schule, Militär, Heirat – und man die Gelegenheit hatte, die Leute zu sehen, wurde geguckt, ob sie geimpft sind. Einen richtigen Hype gab es dann um 1890, als Pasteur eine Impfung gegen Tollwut entwickelte. Und dass, obwohl Tollwut ja eigentlich kein epidemiologisch Phänomen ist. Aber die öffentliche Wahrnehmung war so groß, dass Pasteur ohne Probleme eine Million französischer Franc einsammeln konnte, um das Institut Pasteur zu bauen. Dann ging es Schlag auf Schlag. Seitdem kann man eigentlich sicher sein, sobald ein neuer Erreger auftaucht, gibt es über kurz oder lang einen Impfstoff.

Ist das auch ein wiederkehrendes Muster?

Ja, und es wurde eigentlich erst durch Aids beendet. Da ist von der Wahrnehmung her der große Bruch: Dass es eine Infektionskrankheit gibt, bei der noch nicht wirklich absehbar ist, wann es einen wirksamen Impfstoff gibt.

Hat man durch Aids ein Urvertrauen in die Medizin verloren?

In der öffentlichen Wahrnehmung hat Aids sicher das Heilsversprechen der Medizin zutiefst erschüttert – und zwar bis heute. Dabei ist Aids vom epidemiologischen Geschehen her in Mitteleuropa kein Problem mehr – auch wenn das zynisch klingen mag. Weltweit sterben an Tuberkulose viel mehr Menschen. Aber die öffentliche Wahrnehmung orientiert sich nicht an der Rationalität epidemiologischer Statistiken, sondern an den Bildern, die mit einer Erkrankung verbunden sind. Tuberkulose ist vertraut, damit sind unsere Urgroßeltern groß geworden, teilweise noch die Großeltern. Sie war als proletarische Krankheit überall präsent und ist viel weniger aufregend als die sexuell übertragbare Krankheit Aids, die die Betroffenen anfangs auch noch sichtbar gezeichnet hat. Vielleicht ändert sich diese Wahrnehmung jetzt. Nach neuesten Meldungen soll es ja in Thailand einen Durchbruch bei der Entwicklung eines Impfstoffes gegen Aids gegeben haben.

Das Interview führte Udo Badelt

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