zum Hauptinhalt

MEDIZIN Männer: Der Aufklärer

MAGNUS HIRSCHFELD 1868–1935 Etwas versteckt an diesem Eckgebäude, wo heute das Haus der Kulturen der Welt steht, hing ein Briefkasten. In den konnten die Berliner anonym ihre Fragen einwerfen.

MAGNUS HIRSCHFELD 1868–1935

Etwas versteckt an diesem Eckgebäude, wo heute das Haus der Kulturen der Welt steht, hing ein Briefkasten. In den konnten die Berliner anonym ihre Fragen einwerfen. Beantwortet wurde jede auch noch so anrüchige im großen Saal des Instituts für Sexualwissenschaft. Alle 14 Tage gab es dort Frageabende – wahre Publikumsrenner: Es ging um Verhütung, um Sex und Impotenz. 1919 hatte Magnus Hirschfeld das erste Institut für Sexualwissenschaft eröffnet. Vielen war das ein Dorn im Auge. Doch Hirschfeld scheute keinen Skandal.

Er war bereits mit einem Paukenschlag an die Öffentlichkeit getreten: Gerade steht Oscar Wilde wegen seiner Homosexualität in England vor Gericht, da veröffentlicht Magnus Hirschfeld seine Streitschrift „Sappho und Sokrates – Wie erklärt sich die Liebe der Männer und Frauen zu Personen des eigenen Geschlechts?“. Der junge Mann aus Pommern untermauert die Forderung nach Entkriminalisierung der Homosexualität mit einer Mischung aus Fakten und Fiktion. Ein Schreibstil, den er nie ganz ablegen kann und der ihm viele Feinde in der Wissenschaft beschert.

Die Theorie zur Grundlage seines weiteren Schaffens: Jeder Mensch besteht aus einer einmaligen Mischung von weiblichen und männlichen Eigenschaften. Erst im Laufe der Entwicklung nehme das Verlangen nach dem eigenen Geschlecht ab. Bei Homosexuellen sei das nicht der Fall. Eine Art Gendefekt also. Deshalb sei die Homosexualität natürlich und kein Verbrechen. Für die Öffentlichkeit ist das Sprengstoff. Denn Hirschfeld weist nicht nur Homosexuellen und Transvestiten – ein Begriff, den er geprägt hat – einen Platz in der Gesellschaft zu, sondern verunsichert, weil er den strikten Gegensatz von Mann und Frau über Bord wirft.

Wie viel Hass das schürt, bekommt er physisch zu spüren: Nach einem Vortrag in München 1921 wird Hirschfeld von „Völkischen“ zusammengeschlagen und für tot erklärt. Obwohl er überlebt, erscheint am nächsten Tag ein Nachruf. Ludwig Thoma, bis heute eine Instanz fürs „Humorige“ in Bayern, rechtfertigt den versuchten Mord: „Der Kerl hat ja den Versuch gemacht, auch in München seine säuische Propaganda zu eröffnen.“

Hirschfeld macht trotzdem weiter. Aber die Schwulen- und Lesbenkultur in den deutschen Großstädten blüht nur kurz. 1933 wird das Berliner Institut zerstört, alle Bücher auf dem Bebelplatz verbrannt. Hirschfeld hat Deutschland da bereits verlassen. In den letzten Jahren seines Lebens reist er um die Welt und hält Vorträge. 1935 stirbt er bei seinem Lebensgefährten in Nizza. Zuletzt hatte sich Hirschfeld mit der Begründung des Gendefekts für ein Fortpflanzungsverbot für Schwule und Lesben ausgesprochen. Ein Grund, warum er bis heute höchst umstritten ist. Markus Langenstraß

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false