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MEDIZIN Männer: Der menschliche Psychiater

Über den Psychiater Wilhelm Griesinger

Wilhelm Griesinger

Beinahe hätten sie ihn aus der Uni geworfen, den Studentenlümmel Griesinger. Er hatte den Tübinger Professoren aus der Kutsche mit Champagner zugeprostet: „Auf ein freies, mächtiges und republikanisches Deutschland!“ Als Medizinstudent in einem Land, in dem der Reformstau der 1830er Jahre auch die Universitäten lähmt, will er sich keine „veralteten Ansichten dictieren“ lassen. Das wird ihm als „anarchische Leidenschaft“ ausgelegt. Genau diesen Wesenszug des Menschen nehmen die „Psychiker“ jener Zeit, um zu erklären, was Geisteskrankheiten auslöst: „Irre“ sind schlicht vom sittlichen Weg abgekommen, glaubt dieser Zweig der im Schneckentempo entstehenden deutschen Psychiatrie. Man müsse sie deshalb nur lange genug mit moralischen Predigten und Bestrafungen bearbeiten. Ihnen gegenüber stehen die „Somatiker“, die die Psychiatrie auf eine medizinisch-somatische Grundlage stellen wollen und Geisteskranke von einer moralischen Schuld befreien. Aber auch in ihrem Kreis fühlt sich Griesinger nicht wohl. Er kritisiert Jacobi, einen der wichtigsten Vertreter der Richtung, weil der in Geisteskrankheiten nur das Symptom einer körperlichen Krankheit sieht. Die verbreitete Ansicht der Somatiker, die Seele als das Göttliche im Menschen könne nicht einfach erkranken, lehnt Griesinger ab. Er versteht unter der Seele die Summe aller „Gehirnzustände“, und dieses Gehirn macht er als Hauptschuldigen fürs „Irresein“ aus. Obwohl ein Großteil der Kollegen diese Idee für lächerlich hält – sie ist ein Riesenschritt zur modernen Psychiatrie.

Griesinger ist ein Reisender auf allen Gebieten: Er forscht in der Seuchenbekämpfung, will die Disziplinen Medizin, Physiologie und Psychologie voneinander lernen lassen. Er macht Station in Tübingen, Zürich, Paris, Kiel und Kairo als Leibarzt des Vizekönigs. Nach Berlin wird er erst 1865 berufen. Die psychiatrische Abteilung der Charité mutet bei seiner Ankunft wie ein Gruselkabinett an: Zwangsstuhl, Drehbrett und Zwangsstehen gehören zur täglichen „Behandlung“. Mit der Entfernung der Foltergeräte wird die Geisteskrankheit von ihrem moralischen Makel befreit. Griesinger gesteht den „Irren“ Menschenrechte zu, etabliert die individuelle Behandlung ohne Zwang. Zwischen gesunden und krankhaften Seelenzuständen bestehe eine nur graduelle Verschiedenheit, schreibt er. Das bringt Kranke und Gesunde einander näher, sogar räumlich, weil sie nicht mehr vor die Tore der Stadt verbannt werden. 1868 stirbt er mit nur 51 Jahren. Griesinger hinterlässt die kurze Blüte einer humanistischen Psychiatrie in Berlin. In den 1880er Jahren wird der Graben zwischen krank und gesund bereits wieder breiter, ehe er sich in der NS-Zeit zum Abgrund weitet.

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