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MEDIZIN Männer: Lange Haare, scharfe Augen

ALBRECHT VON GRAEFE Ich habe Ehrgeiz, der sich im Gewühle des Berliner Lebens unbewusst zu einer ungeahnten Höhe steigern mag“, sagt Albrecht von Graefe und meint eine gewisse Verbissenheit in Bezug auf die Augenheilkunde. Für anderes ist kaum Platz.

ALBRECHT VON GRAEFE

Ich habe Ehrgeiz, der sich im Gewühle des Berliner Lebens unbewusst zu einer ungeahnten Höhe steigern mag“, sagt Albrecht von Graefe und meint eine gewisse Verbissenheit in Bezug auf die Augenheilkunde. Für anderes ist kaum Platz. Sogar die Hochzeitsankündigung an zwei Freunde liest sich wie eine Krankenakte: „Ich habe mich mit der in der Nr. 3 der Klinik befindlichen Patientin verlobt“, schreibt er. Jene Patientin, „welche ich durch doppelte Neurotomie des Temporalastes des subcutaneus malae geheilt. Ich bin herzlich froh darüber.“

Graefe wird in den Arztberuf hineingeboren. Sein früh verstorbener Vater war Chirurg und königlich preußischer Medizinalrat. Albrecht macht sich schon mit 15 – drei Jahre nach dem Tod des Vaters – auf, ihm nachzufolgen. Der talentierte junge Mann könnte ein angesehener Chirurg werden – bis er auf einer Studienreise nach Prag, Paris, Wien und London die Augenheilkunde entdeckt. Mit dem neuesten Wissen kehrt er nach Berlin zurück und eröffnet 1851 eine augenärztliche Privatpraxis. Der Mutter gefällt das gar nicht: Mit Albrechts stets langen Haaren hat sie ihre Schwierigkeiten, und auch die Wahl der Ophthalmologie – ein unbedeutendes Randgebiet der Chirurgie– macht ihr Sorgen. Keinen Grund zur Angst gibt ihr dagegen Albrechts politische Haltung: In Briefen aus Paris 1848 schreibt er vom Studium, während die Februarrevolution vor seiner Tür tobt.

Doch Graefes Praxis wird ein voller Erfolg: Schnell hat sie einen Ruf von Weltruhm. Ende der 1850er Jahre suchen 50 000 Patienten im Jahr seine Hilfe. Er operiert im Akkord. Die Armen, wie es ein Schild verkündet, sogar unentgeltlich. Vor allem die Behandlung des Schielens macht ihn berühmt: Er ersetzt Dieffenbachs Schielmuskeldurchschneidung, die oft nur die Richtung des Schielens änderte, durch ein neues, abgestuftes Verfahren. Graefe setzt auf moderne Technik und erkennt die Verbindung von Augenleiden mit neurologischen Erkrankungen. Als ihm die Operation des Grünen Stars gelingt, indem er die Iris des Patienten entfernt, bezeichnet ihn ein Kollege als „Geschenk für die Menschheit“.

Trotz aller Erfolge darf er keine Vorlesungen halten und nicht prüfen. Die Augenheilkunde wird erst nach seinem Tod fester Bestandteil der medizinischen Ausbildung. Doch Augenärzte sehen in ihm den Begründer der modernen Disziplin.

Wenn Graefe das Gewühle des Berliner Lebens zu sehr zusetzte, unternahm er Bergtouren in den Alpen. Damit konnte er seinen Ehrgeiz besänftigen: „Es bedarf nur einiger Tage unter freiem Himmel, um auf den legitimen Weg zurückzukommen.“ Diese Möglichkeit wurde ihm schon früh von der Tuberkulose genommen. Albrecht von Graefe starb 1870 mit nur 42 Jahren. Markus Langenstrass

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