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Gesundheit: Mein Freund, der Raum

Kulturwissenschaftler versuchen, Orte der Geschichte zum Sprechen zu bringen

Im Branchenteil des Berliner Adressbuchs von 1932 waren die Einträge alphabetisch geordnet – von Aalräucherei bis Zylinderschleiferei. Daran hat sich bis heute nichts Wesentliches geändert. Aber zwischen den ersten und letzten Stichworten von 1932 sei auf 700 Dünndruckseiten ein „Museum der untergegangenen Professionen“ versammelt, sagt Karl Schlögel, Europahistoriker in Frankfurt (Oder). Etliche Molkereien im Stadtgebiet sprechen von dörflichen Ursprüngen, die „Versicherung gegen Aufruhr“ dagegen von unsicheren Zeiten. Mit Hilfe von Adressbüchern, so Schlögel, können sich Historiker Städte, die untergegangen sind, vergegenwärtigen, Menschen, die sie im Chaos der Revolutionen und Kriege aus den Augen verloren haben, wiederfinden.

„Die Fülle des Verlusts spüren“

Minutenlang las Schlögel jetzt bei der Jahrestagung des Berliner Zentrums für Literaturforschung (ZfL) aus Berliner Branchenverzeichnissen von 1932 und 1947 und dem Jüdischen Adressbuch von 1931 vor. Bei Lektüre und Beschreibung dieses Materials, verteidigte sich Schlögel, müsse man an die Grenze des Aufnehmbaren kommen, „um die Fülle des Verlusts zu spüren“. Sich mit Telefon- und Adressbüchern zu beschäftigen, sei möglicherweise eine Vorarbeit für eine neue Methode der Historiographie: „Eine Übung, um die räumlichen Dimensionen wiederzugewinnen.“ Nur durch eine räumlich aufgeklärte, neu interpretierte Geschichtsschreibung könne man der Komplexität der Geschichte im 20. Jahrhundert gerecht werden.

Von einem „spacial turn“ – in Anlehnung an die „linguistic“ und „pictorial turns“ der Cultural Studies – wollte Schlögel noch nicht sprechen. Der Neologismus von der „räumlichen Wende“ wurde aber von seinen kulturwissenschaftlichen Kollegen begierig aufgenommen, hatten sie doch ihre Tagung ohnehin den Topografien als „anderen Räumen der Moderne“ gewidmet. „Der Raum“, so ZfL-Direktorin Sigrid Weigel, „ist der Freund der Kulturwissenschaft.“ Über ihn könne man sich der Kulturgeschichte besser als über die großen Erzählungen nähern.

Aber wie kann man von einem Ort aus sprechen, den es im offiziellen Raumgefüge gar nicht gibt? Für die Topografien des sowjetischen Gulag-Systems gibt es keine Adressbücher. Franziska Thun, Slawistin am ZfL, nähert sich dieser „Lagerzivilisation“ über die großen Erzählungen der poststalinistischen Zeit, über die Erinnerungsliteratur von Gulag-Überlebenden wie Alexander Solschenizyn und Jewgenia Ginzburg. „Das einzige Instrument der Kartografierung ist das Gedächtnis der Inhaftierten“, sagt Thun. Jewgenia Ginzburg wurde 1937 als Ehefrau eines politischen Beamten in Kazan verhaftet. Einem einmonatigen Bahntransport nach Wladiwostok und einer Schiffsfahrt nach Magadan folgten verschiedene Lager in Sibirien. Erst 1955 konnte Jewgenia Ginzburg nach Moskau zurückkehren. In ihren Memoiren („Gratwanderung“) reflektiert sie, so Thun, „den Verlust der Verfügungsgewalt über Raum und Zeit“. Das Leben nach der Entlassung war zunächst ganz der Wiedergewinnung dieser Koordinaten gewidmet. So erschien Ginzburg bereits die minimale zivilisatorische Topogrfie, die ihr Magadan in den Jahren nach der Entlassung aus dem Lager bot – Kulturhaus, Kino, Sauna – als „Zentrum der Zivilisation“.

Szenenwechsel: Rilke schickt seinen dänischen Helden Malte Laurids Brigge ins Paris von 1910. Die fremde Stadt verwirrt den jungen Mann, elektrische Bahnen scheinen durch sein Zimmer zu rasen, er verläuft sich. Als er endlich auf eine der Straßenbahnen stößt, sind ihm die Namen auf ihren Tafeln unbekannt. Kindliche Fieberträume werden wieder wach. Topografisch neu gelesen hat Justus Fetscher vom ZfL „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“. Das Leben des Tagebuchschreibers werde durch die Kraft des fremden Raums umgekrempelt.

In den Straßen, Räumen und Konturen der Stadt, so Fetscher, ist das „innere Häusermeer der Erinnerungen des Malte Laurids Brigge“ gespiegelt. Zunächst macht ihn die Stadt sprachlos – „wie ein leeres Papier trieb ich an den Häusern entlang“. Dann aber erschreibt sich Malte eine neue Identität. So gelesen, könnten die „Aufzeichnungen“ ein Schlüsseltext für den bevorstehenden „spacial turn“ der Kulturwissenschaft werden.

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