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Lebensaufgabe. Allein in Berlin gibt es 170 000 pflegende Angehörige. Foto: imago

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Gesundheit: Mit Liebe, Kraft und Hartnäckigkeit

Pflegende Angehörige sind eine Stütze der Gesellschaft. Aber: Nicht nur Kinder sorgen für ihre Eltern. Es kann auch umgekehrt sein. Zu Besuch bei einer Mutter, die sich seit 18 Jahren für ihren Sohn aufopfert.

Hinter dem Haus von Sylke Pollack wird die brandenburgische Landschaft weit, kein Gebäude verstellt die Sicht, nur ab und zu rauscht leise ein Regionalzug durchs Bild. „Wir stellen uns immer vor, dass gleich hinter der Wiese das Meer anfängt“, sagt die 51-Jährige. Im Sommer kann ihr Sohn Julien draußen im Garten liegen, der Natur zuhören, die Stille genießen. An diesem Dezembervormittag liegt er in seinem Zimmer, hört Musik. Seine Mutter greift nach seiner schmalen Hand, streicht ihm über den Kopf, stellt ihm die Besucherin vor. Julien lächelt. Er hat ein kindliches Gesicht und ist sehr, sehr dünn, dabei bekommt er eine hochkalorische Ernährung. Aber das, was seine Krankheit mit dem Körper macht, verbrennt unglaublich viel Energie.

Julien ist mit einer Stoffwechselstörung auf die Welt gekommen, der nicht ketotischen Hyperglycinämie (NKH). Einer der Bestandteile des Enzyms, das den Eiweißbaustein Glycin abbaut, ist defekt. Deshalb überschwemmt das Glycin den Körper und hemmt den Hirnstoffwechsel. Kennzeichen der Krankheit sind geistige Retardierung, Muskelschlaffheit und schwere Krämpfe. Die Betroffenen bekommen Medikamente gegen die Krämpfe und Mittel, die das Glycin binden, damit es ausgeschieden werden kann. Die Mehrheit der Patienten braucht intensive Pflege. Unter den Kindern und Jugendlichen, die dasselbe Krankheitsbild haben und gemeinsam mit ihm die Paul-und-Charlotte- Kniese-Schule in Lichtenberg besuchen, gehört Julien zu den Ältesten. Er ist inzwischen 18.

Kurz nach der Geburt ist er ins Koma gefallen, „doch er hat sich ins Leben zurückgekämpft“. Sylke Pollack ist damals 33 und arbeitet im öffentlichen Dienst. Sie konzentriert sich fünf Jahre lang auf die Pflege ihres Sohnes, der auch eine Sehbehinderung hat. Sie versorgt ihn zu Hause, geht mit ihm zu Ärzten und Therapeuten. Mit drei Jahren wird Julien in die Vorklasse eingeschult. Als er fünf ist, möchte seine Mutter gerne wieder arbeiten gehen. Sie findet eine Teilzeitstelle in einer Physiotherapiepraxis in Kreuzberg. Dort arbeitet sie noch immer – bis zu drei Tage in der Woche. Ihr Mann arbeitet Vollzeit, auch in Berlin. Er ist Tischler an der Volksbühne. Wenn er zu Hause ist, kümmert er sich ebenfalls viel um seinen Sohn. Juliens große Schwester lebt in Berlin. „Die Geschwister haben ein sehr herzliches Verhältnis, aber wir haben immer darauf geachtet, dass unsere Tochter auch genügend Zeit für sich hat“, erklärt Sylke Pollack, die sich inzwischen ins Wohnzimmer gesetzt hat.

Sie kennt einige Mütter, die sich ausschließlich auf die Pflege ihrer Kinder konzentrieren. Doch diese Leistung werde oft nicht richtig gewürdigt, auch nicht von der eigenen Familie. .„Es tut gut“, sagt sie, „noch eine andere Aufgabe zu haben.“ Wenn Julien in die Schule geht, beginnt ihr Tag um 5.30 Uhr, wenn er zu Hause bleibt, gegen 7. Sie steht auf, wäscht und wickelt ihn. Und sie bereitet die Medikamente vor, macht Tee und kocht eine spezielle Kost, die eiweißreduziert ist und eben voller Kalorien steckt.

In Deutschland sind rund 2,5 Millionen Menschen pfegebedürftig, die meisten werden zu Hause versorgt, fast immer von weiblichen Bezugspersonen, den Töchtern, Müttern oder Schwiegertöchtern. Allein in Berlin gibt es rund 170 000 pflegende Angehörige. Viele davon versuchen, die Versorgung erst einmal alleine hinzubekommen. „Ein Großteil sucht erst dann Hilfe, wenn es gar nicht mehr anders geht und sie selbst völlig erschöpft sind“, sagt Frank Schumann von der Berliner Fachstelle für pflegende Angehörige, die vor drei Jahren eingerichtet wurde. In der Generation der 40- bis 60-Jährigen wandle sich diese Einstellung aber langsam: Es werde selbstverständlicher, Unterstützung in Anspruch zu nehmen.

Auch die Pollacks machen das schon lange. Für seine Mutter ist es das Wichtigste, dass Julien sich mit den Pflegekräften versteht: „Man lässt diese Menschen ja in den privatesten Bereich und übergibt ihnen das Liebste, was man hat.“ Sie weiß, dass sie sich auf ihren Sohn verlassen kann: Er kann zwar nicht sprechen, „aber er ist sehr intelligent und bekommt sehr viel mit“. Wenn etwas nicht in Ordnung ist, er Schmerzen hat oder sich mit einem Menschen nicht wohl fühlt, dann macht er auf sich aufmerksam, schreit und zeigt, dass er das jetzt nicht möchte. „Wir müssen dann nur herausfinden, was genau dahintersteckt“. Weil sie Julien in ihrer Berliner Wohnung nicht mehr optimal versorgen konnten, sind die Pollacks vor sieben Jahren ins brandenburgische Königs Wusterhausen gezogen. Die Weite und Stille tun Julien gut. Seit zwei Jahren geht es ihm schlechter, er braucht mehr Ruhe und geht auch nicht mehr so oft in die Schule. Nach dem Umzug musste sich Sylke Pollack allerdings wieder neu orientieren. Denn die Organisation rund um die Pflegebedürftigen ist in den Bundesländern unterschiedlich geregelt, oft variiert sie auch von Gemeinde zu Gemeinde. Die Angehörigen müssen ständig nach Informationen suchen.

Dabei ist der Alltag ohnehin verdammt eng getaktet, alle Abläufe sind durchgeplant, spontane Aktivitäten kann sich die Familie nicht erlauben. Wenn etwas Unvorhergesehenes passiert, gerät dieses fein austarierte System schnell aus der Balance. Als ihr Bruder vor zwei Jahren völlig unerwartet verstarb, kam Sylke Pollack an ihre Grenzen, „mein Akku war einfach leer“. Sie musste sich krankschreiben lassen – und hatte Angst um ihren Arbeitsplatz. Nun ist ihr Vater schwer erkrankt, und sie hat festgestellt, dass in Thüringen wieder alles anders organisiert ist als in Berlin oder Brandenburg.

Besonders belastend ist für die Pollacks das Thema Finanzen: Sie müssen ihre gesamten Einkünfte offenlegen – und dürfen nur noch ein paar tausend Euro ansparen. „Man wird bestraft, weil man fleißig ist und arbeiten geht“, sagt sie. „Für die Gutachter sind wir wahrscheinlich eine Vorzeigefamilie mit einem schönen Haus, guter Organisation und einem liebevollen Umfeld.“ Wie viel Arbeit dahintersteckt, wird dabei allerdings übersehen.

Seit ein paar Tagen schläft die 51-Jährige schlecht: Die Krankenkasse hat Juliens Intensivbetreuung durch einen Pflegedienst auf den Prüfstand gestellt. „Dabei geht es ihm seit Jahren schlechter, und es wird auch nicht mehr besser.“ Sollten tatsächlich Leistungen gestrichen werden, dann wird Sylke Pollack wohl im nächsten Sommer ihren Beruf aufgeben müssen. Aber sie wird kämpfen, wie sie – mit Unterstützung guter Ärzte – schon um viele Dinge gekämpft hat

Es ist fast Mittag. Zum Abschied gibt es Geschenke, drei Postkarten, auf denen Bilder von ihr abgedruckt sind: Eine Winterlandschaft, ein Boot und ein riesiger Strandkorb. Sie malt seit 1999, „das gibt mir unglaublich viel“. Wünscht sie sich manchmal ein anderes Leben? „Ich bin nicht gläubig, aber ich weiß: Es ist gut, dass Julien zu uns gekommen ist, dass er sich uns ausgesucht hat.“ Und auch wenn der Alltag oft hart ist, sind sie sehr glücklich mit ihm.

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