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Gesundheit: Mit Stichpunkten durch die Klausur Brücken zur Seele

Kunst kann psychisch Kranken helfen. Ein neuer Studiengang in Berlin bildet spezielle Therapeuten aus

Florian Urschel ist Erstsemester in Berlin – und Bachelorstudent Manche Dinge, die ich in den letzten Wochen an der Uni erlebt habe, kann ich immer noch nicht glauben. Zum Beispiel, dass ich bereits meine erste Klausur geschrieben habe, in Geschichte. Die erste von sechs Klausuren in diesem Semester. Als ich den Zettel mit den Aufgaben erhalte, wird mir schnell klar: Eine Bachelor-Klausur ist anders als eine Prüfung in der Schule. Auf dem Arbeitsblatt türmen sich zwanzig Fragen zur Arbeitstechnik, zum Umgang mit Handbüchern und zu Grundbegriffen der Geschichte. In anderthalb Stunden sollen wir alles beantworten. Vielleicht hätte ich mehr lernen sollen. Aber ich musste ja noch für die anderen Dozenten Aufgaben erledigen: althochdeutsche Verben flektieren, Aufsätze aus Zeitschriften zitieren, Thesen zu Heines Lyrik kreieren. Alles, um im temporeichen Bachelorstudium voranzukommen.

Wenigstens muss ich in der Geschichtsklausur keine vollständigen Sätze austüfteln. Stichpunkte genügen. Wie überhaupt in diesem Studium: Auch in den nächsten Klausuren kann man mit Sprachgewalt nicht viel bewirken. In Deutsch und in Erziehungswissenschaft müssen wir gerade mal unseren Namen schreiben. Am Ende des Semesters warten dort nämlich Klausuren zum Ankreuzen auf uns. Deshalb freue ich mich fast ein wenig auf die Hausarbeit und auf die mündliche Prüfung in ein paar Wochen. Dann werde ich meine Beredsamkeit üben. Das sollte nicht schaden für einen angehenden Lehrer. „Das ist der Kasimir“, sagt Roman G. und drückt seiner kleinen Tonskulptur behutsam die Stirn glatt. Der 50-jährige Patient ist schwer depressiv, still und verschlossen. Dass er jetzt überhaupt etwas sagt, ist für ihn und die Kunsttherapeutin Karin Dannecker bereits ein Fortschritt. Die Psychologin arbeitet an der Parkklinik Weißensee. „Über künstlerische Arbeiten drücken Patienten häufig Unbewusstes aus“, erklärt sie. „Verbal würden sie so etwas nie formulieren.“ Die kleine Tonfigur, die Roman G. modelliert hat, sieht nämlich zornig aus. Also fragt die Psychologin, worauf der Kasimir denn wütend sei? Erschrocken, weil er vielleicht für einen Moment sein eigenes Problem erkannt hat, antwortet Roman G.: „Der kann doch nicht sprechen!“

Kunsttherapeuten müssen mit Psychologie und Kunst gleichermaßen vertraut sein. Eine etwas ungewöhnliche Mischung, die man aber erlernen kann. Ab kommendem Semester bietet die Kunsthochschule Berlin Weißensee in Zusammenarbeit mit einem an der Parkklinik angesiedelten Kolleg für Kunstherapie den passenden Studiengang an. Hier konnten Absolventen bisher nach einem dreijährigen Studium mit dem „Art Psychotherapy Diploma“ des Goldsmiths College der Londoner Universität abschließen. In Zukunft haben sie die erste Möglichkeit in Deutschland, den „Master of Arts in Art Therapy“ zu erwerben. „Bislang haben sich hierzulande vorrangig private Anbieter um die Ausbildung gekümmert“, erläutert Karin Dannecker: „Mit dem jetzt staatlich anerkannten Abschluss haben Bewerber auf dem internationalen Arbeitsmarkt bessere Chancen.“

Kunsttherapeuten üben ihren Beruf jedoch nicht nur klinisch aus, das heißt mit Patienten der Psychiatrien. Auch bei der Arbeit mit Behinderten, älteren Menschen oder Kindern werden Pinsel, Farbe oder Ton eingesetzt. Anhand der Kunstwerke müssen die Therapeuten dabei stets die jeweiligen Persönlichkeiten analysieren. „Welche gemalten Motive zu welcher Symptom-Problematik passen“, stellt Karin Dannecker jedoch klar, „ist nie allgemein und eindeutig festzustellen“. Aber es gibt Erfahrungswerte. Zum Beispiel können sich viele Psychose-Patienten in Gesprächen nur bruchstückhaft äußern. Bei ihnen erlebt Karin Dannecker häufig, dass sie – im übertragenen und wörtlichen Sinn – kein zusammenhängendes, kohärentes Bild zeichnen können. „Sie finden keine Grenzen. Weder in Gedanken noch auf dem Papier.“

Beobachtungen wie diese müssen vom Therapeuten objektiv festgehalten werden. Da man im Team mit anderen Medizinern arbeitet, werden die Diagnosen standardisiert notiert und weitergereicht. Auch die Gespräche, die man nach vollbrachten Kunstwerken mit den Patienten führt, werden protokolliert. Zudem müssen die Therapeuten allgemein künstlerische Ausdrucksweisen verinnerlicht haben.

Dazu zählen einerseits Kenntnisse über Handwerk und Material. Schließlich muss jedem Patienten wie einem Schüler erklärt werden, wie man mit Kohle zeichnet oder mit Temperafarben malt. Andererseits müssen Therapeuten für die künstlerischen Ideen und Strategien des Patienten sensibel sein. Folgt jemand einer realistischen oder einer abstrakten Darstellung? Plant er seinen Bildaufbau vorab oder lässt er ihn erst während des Malens entstehen?

Nur wer sich solche Fragen selbst einmal gestellt hat, zum Beispiel als Künstler fürs eigene Schaffen, kann andere in ihren künstlerischen Entscheidungen therapeutisch einschätzen. Eine Bedingung für das Studium ist deshalb, dass sich die Anwärter einer Eigentherapie unterziehen. Damit entstehen zu den monatlichen 250 Euro Pflichtgebühr zusätzliche Kosten.

Die Kunsthochschule Weißensee bietet die Kunsttherapie als dreijährigen Teilzeitstudiengang an, der berufsbegleitend studiert wird, Theorie und Praxis wechseln einander ab. Die Seminare finden vorrangig an Wochenenden statt. Zulassungsvoraussetzung ist ein Hochschulabschluss und Arbeitserfahrung im psycho-sozialen Bereich wie der Kunsterziehung oder Sozialpädagogik. Zudem wird die künstlerische Eignung der Bewerber geprüft. „Aber keine Bange“, macht Karin Dannecker Mut, „nach Ergebnissen der künstlerischen Eigentherapie wird niemand fragen“. Therapeuten unterliegen schließlich der Schweigepflicht.

Mehr im Internet:

www.kunsttherapie-berlin.de

Florian Urschel (21) machte 2003 Abitur in Berlin und absolvierte dann seinen Zivildienst. Jetzt studiert er Deutsch und Geschichte an der Freien Universität Berlin – auf Lehramt.

Sven Scherz-Schade

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