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Multiple Sklerose: Kämpfen um jeden fröhlichen Tag

120.000 Deutsche leiden an Multipler Sklerose - eine noch immer unheilbare Krankheit. Zwei Berliner erzählen, wie die Diagnose ihr Leben verändert hat

Susanne Hahn ist zupackend und fröhlich. Die 27-Jährige arbeitet auf dem Flughafen Schönefeld am Ryan-Air-Schalter für Übergepäck. An diesem Vormittag hat sie sich Zeit genommen für ein Treffen im Café. Begeistert erzählt sie, wohin sie Ende des Jahren reisen will. „Vier Wochen Bolivien!“ Das Andenland hatte sie schon als Schülerin besucht. Ein Jahr lang lebte sie dort bei einer Gastfamilie.

Diesmal wird sie die Reise nicht so unbeschwert antreten. Seit drei Jahren lebt Susanne Hahn mit der Diagnose „Multiple Sklerose“ (MS). „Mir war drei Wochen lang schwindelig“, erzählt sie. „Das gibt sich“, beruhigte der Arzt. Bis sie zum Neurologen kam. „Der schob mich in die Röhre.“ Die Untersuchung heißt Magnetresonanztomografie, kurz MRT. Dabei zeigten sich weiße Punkte im Gehirn: Verdacht auf MS. „Da ist für mich eine Welt zusammengebrochen.“

Doch die gelernte Reiseverkehrskauffrau fasste einen Entschluss: „Sollte sich der Verdacht bestätigen, wollte ich das auch als Chance sehen“, sagt sie. Und sie veränderte ihr Leben radikal, trennte sich von ihrem Freund, zog um. „Ich baute mir ein richtig schönes Nest.“ Susanne Hahn lächelt. Dabei verschweigt sie nicht die schlimmen Stunden, als sie Bücher über die Krankheit las – und ihr klar wurde, was es bedeutet, an etwas zu leiden, das nicht mehr besser werden kann.

„Anfangs sind es eher dezente Symptome wie Sehstörungen, Kribbeln, Missempfindungen“, sagt Judith Haas, Chefärztin am Jüdischen Krankenhaus in Berlin. Sie beschäftigt sich seit langem mit MS. Multiple Sklerose ist die häufigste entzündliche Erkrankung von Hirn und Rückenmark. Die Ursachen sind noch unbekannt, der Verlauf ist nicht vorhersehbar. Und nicht aufzuhalten.

„Jeder Patient hat seine eigene MS“, sagt Neurologin Judith Haas. Oft verlaufe die Krankheit auch gutartig, aber am Anfang könne man noch keine Prognose geben. Wer nicht zu diesen Glücklichen gehört, muss sich auf zwei mögliche Verläufe einstellen – auf Schübe, die in unregelmäßigen Abständen auftreten oder auf eine schleichende Verschlechterung. „Beim Schub sind Lähmungen am schlimmsten und eine furchtbare Müdigkeit“, sagt Markus Kern*. 2001 wurde bei dem Journalisten MS diagnostiziert. Erste Symptome wie Kribbeln im Bein und Gleichgewichtsstörungen seien schon zehn Jahre früher aufgetreten. An MS hätte er nicht im Traum gedacht. Bis der sportliche Mann eines Tages gar nicht mehr laufen konnte. Der Orthopäde überwies ihn zur MRT in die Charité. Erster Verdacht: „Querschnittslähmung“. Als er hörte, es sei „bloß“ MS, habe er sich gefreut, erzählt Markus Kern beim Treffen in der Kneipe.

Die ganze Nacht lag er damals wach. MS – was bedeutet das für sein Leben, seine Zukunft? „Dann habe ich die Krankheit angenommen“, sagt der 35-Jährige nachdenklich. Als Therapie musste er Interferon spritzen, drei Mal wöchentlich. Die Nebenwirkungen belasteten ihn stark. Einen Tag lang grippeähnliche Symptome. Inzwischen kann er zwar wieder gehen – aber nicht mehr so gut wie vorher. Er nimmt jetzt an einer Studie teil. Getestet wird Teriflunomid, ein Rheumamittel in Tablettenform.

Eine ganze Reihe neuer Medikamente sei in der „Pipeline“, sagt Judith Haas. Mittlerweile wurden am Jüdischen Krankenhaus Tausende MS-Patienten behandelt, mehr als an jeder anderen deutschen Klinik. „Das Ziel ist ein Medikament zum Einnehmen“, sagt Haas, statt Spritzen, wie sie heute meist notwendig sind. Erprobt werden Wirkstoffe aus der Rheumatherapie oder der Behandlung der Schuppenflechte. Auch maßgeschneiderte Moleküle, die gezielt auf das Zentralnervensystem einwirken. Denn dort wütet die Krankheit, die Ummantelung der Nervenzellen, das Myelin. wird beschädigt.

Das Immunsystem ist fehlgesteuert. Seine Aufgabe ist es, Schädlinge von außen, Bakterien oder Viren, abzuwehren. Bei MS-Patienten greift es auch körpereigenes Gewebe an. Im Gehirn entstehen zahlreiche (multiple) Entzündungsherde, das Myelin wird zerstört. Die Nervenzellen nehmen Schaden, Impulse werden nicht mehr weitergeleitet. Ist das entzündete Hirnareal groß genug, kommt es zu Ausfällen, etwa beim Sehen oder Gehen. Wenn die Entzündung zurückgeht, können Narben bleiben (Sklerosen). Die Behinderungen nehmen schleichend zu. Dieses Szenario ängstigte auch Susanne Hahn. Würde sie bald im Rollstuhl sitzen? Trotzdem: Sie wollte kämpfen, offensiv mit der Krankheit umgehen. Sie informierte umgehend ihren Arbeitgeber. Der Mitarbeiter für soziale Dienste half ihr, wo er konnte. Sie erhielt einen behindertengerechten Bürostuhl für ihren Platz am Flughafen-Schalter, machte eine Kur und wurde nicht mehr in der Spätschicht eingesetzt. Heute sind Susanne Hahn und ihr Betreuer ein Paar.

Sie wühlt in ihrer Tasche, zieht einen Flyer heraus, mit einem stilisierten Portrait: Große Augen, rote Lippen, schwarzes Haar. „Frau Hahn singt Chansons“, steht darauf. Lieder von Tucholsky, Kästner, Cläre Waldoff, die sie mit Pianobegleitung vorträgt. Das Duo tritt in Cafes und bei Feiern auf (www.frau-hahn.de). Beim Singen im Seniorenheim schaut sie in glückliche Augen. „Das macht Freude und gibt Kraft“, sagt sie.

Bei allem Unternehmungsgeist – abschütteln kann Susanne Hahn ihre Krankheit nicht. „Ich frage jetzt viel öfter, was wirklich zählt“, sagt sie. Dabei fällt manches durch ein Rost. Anderes hat sie neu entdeckt. Die Freude an der Musik, die Fähigkeit abzuschalten. Gerne schaut sie im Büro der Deutschen Multiple-Sklerose-Gesellschaft vorbei. Kaffee trinken oder auch mal ausheulen, wenn ein Schub sie plagt. Drei, vier solche Krisen gab es schon. Beim stärksten Schub, vor fast zwei Jahren, konnte sie sich kaum noch konzentrieren oder das Gleichgewicht halten. Das Schlimmste sei, dass der Körper nicht gehorche. „Ich will ein Blatt umblättern und die Finger reagieren nicht.“

Auch Markus Kern macht diese bittere Erfahrung: Die Gliedmaßen ignorieren den Befehl des Gehirns. „Dann kann ich den Fuß nicht mehr heben“, erklärt er, und es herrscht „Schubalarm“. Dann bekommt er hoch dosierte Infusionen von Kortison. Nebenwirkungen wie Euphorie oder starke „Fressanfälle“ steckt er gut weg. Schlimmer ist die Angst, dass es ihm immer schlechter gehen wird. Wenn der Schub nachlässt, fangen die geschädigten Nervenzellen zwar an, sich zu regenerieren, doch in welchem Umfang können sie das überhaupt?

Jeder MS-Patient hat da seine eigenen Erfahrungen. Das weiß Markus, seit er sich mit Leidensgenossen regelmäßig zum Stammtisch trifft. Da sieht man, wie unterschiedlich sich die Krankheit auswirken kann. „Der eine trinkt den Kaffee mit dem Strohhalm, weil er zu sehr zittert.“ Andere sehen Bilder doppelt. Markus Kern geht am Stock, weil er seinen Fuß nicht mehr richtig heben kann. Ein Erbe des letzten Schubs. „Alles, was drei Wochen danach nicht mehr funktioniert, bleibt dauerhaft weg“, sagt er. Aber er zweifelt auch, ob diese Regel immer gilt. Markus hat den Eindruck, dass er jetzt den Fuß wieder etwas mehr heben und das Gleichgewicht für vielleicht drei Sekunden ohne Stock halten könne. „Nur ich merke diese Veränderung. Ihnen fällt das nicht auf“, sagt er.

Vielleicht hat diese positive Veränderung auch mit dem neuen Medikament zu tun, das er im Rahmen der Studie einnimmt. „Ich habe das starke Gefühl, dass ich kein Placebo habe.“ Die Schübe bleiben aus, und Markus Kern fühlt sich wohler. Er lacht, trinkt seinen Apfelsaft aus, nimmt seinen Stock und geht in die Redaktion. Er hat heute noch viel vor.

*Name von der Redaktion geändert

Paul Janositz

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