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Gesundheit: Nach der Wende kam die Wende

Sozialwissenschaftler erklären den Verdruss im OstenUwe Schlicht Große Begeisterung über den Fall der Mauer 1989 und über die ersehnte Wiedervereinigung, aber heute Enttäuschung und Politikverdruss. Wie ist es zu diesem Stimmungsumschlag im Osten Deutschlands gekommen?

Sozialwissenschaftler erklären den Verdruss im OstenUwe Schlicht

Große Begeisterung über den Fall der Mauer 1989 und über die ersehnte Wiedervereinigung, aber heute Enttäuschung und Politikverdruss. Wie ist es zu diesem Stimmungsumschlag im Osten Deutschlands gekommen? Der Slogan von der "unvollendeten Einheit" geht um, und jetzt haben Sozialforscher im Max-Planck-Institut für Bildungsforschung neue Ergebnisse vorglegt.

Detlef Pollack war zunächst Theologe in Leipzig, bevor er sich nach der Wende in Soziologie habilitierte und von der Europa-Universität Viadrina berufen wurde. Aus eigenem Erleben kann er die Wende in der Wende deuten. Für ihn ist eindeutig: Der Politikverdruss im Osten habe sich erst nach und nach herausgebildet, und zwar auf Grund der Erfahrungen des Wandels und der konkreten Begegnung mit dem westlichen System. Am Anfang begrüßten viele den Untergang der DDR, weil sie hohe Erwartungen an die Leistungsfähigkeit des Westens hatten. Schon zu Zeiten der DDR war das so andere, faszinierende Bild des Westens immer präsent - über das Fernsehen oder die Besucher aus der Bundesrepublik. Insofern waren die offiziell verkündeten Werte der DDR nicht zugleich die in der Bevölkerung akzeptierten.

Aber die hohen Erwartungen an den Westen "trugen in sich bereits den Keim der Enttäuschung", resümierte Pollack die Forschungsergebnisse. Seine Grundaussage lautet: Weder die DDR-Sozialisation über 40 Jahre, noch die Gewöhnung an den Obrigkeitsstaat kann die heutige Mentalität vieler erklären, wenn sie die Fürsorge des Staates vermissen, wenn sie nach Harmonie streben und sich in der von Konkurrenzdenken geprägten Ellenbogengesellschaft nicht zurechtfinden. Es sind die Erfahrungen der Transformation in ein anderes Gesellschaftssystem, die Enttäuschung ausgelöst haben. Die Gedanken und Gefühle sind ambivalent: Man sieht nach dem Zusammenbruch des Sozialismus keine Alternative zum westlichen System, wenn es um die Leistungsfähigkeit oder den Parteienpluralismus geht. Aber gleichzeitig fühlen sich viele in der neuen Gesellschaft nicht gleichwertig behandelt.

Pollack belegte diese Aussagen mit Umfrageergebnissen. Die Zustimmung zu den Prinzipien der Demokratie wie den Grundrechten, dem Rechtsstaat, dem Parteienpluralismus, der freien Meinungsäußerung liegen in Ost und West etwa gleich hoch bei über 90 Prozent. Aber wenn es um die Beurteilung der erlebten, der realen Demokratie geht, dann sind nur 50 Prozent der Ostdeutschen zufrieden, gegenüber 70 Prozent der Westdeutschen.

So erfolgreich auch der Transfer westdeutscher Eliten in die Spitzenpositionen von Verwaltung, Wissenschaft und Wirtschaft in den neuen Ländern war - sehr häufig werde dieser Transfer von den Ostdeutschen als im westlichen Interesse liegend eingeschätzt.

Auf der anderen Seite geht es vielen Ostdeutschen heute individuell besser als vor der Wende. In Befragungen äußerten das 72 Prozent. Für diese positive Einstellung spreche auch der Rückgang der Westwanderung von Ostdeutschen von mehr als 400 000 auf heute 187 000, meinte Pollack. Aber das Erlebnis der Arbeitslosigkeit, das sich in fast jeder Familie niedergeschlagen hat, ist für das Klima entscheidend geworden. Seit der Wende seien drei Millionen aus der Erwerbstätigkeit ausgegrenzt worden. Etwa die Hälfte der Ostdeutschen im Alter zwischen 18 und 60 Jahren hat solche Erfahrungen gemacht. Offiziell liegt die Arbeitslosenquote bei 17 Prozent, aber Pollack rechnete die verdeckte Arbeitslosigkeit hinzu und kam so auf eine Quote von 30 Prozent. Besonders Frauen sind von der Arbeitslosigkeit betroffen - ihre Erwerbstätigkeit war in der DDR außerordentlich hoch. Noch heute haben viele Ostdeutsche nur befristete Arbeitsverträge, und ihr Einkommen ist gegenüber dem der Wessis nach wie vor niedriger. Der Schluss liegt nahe: Das Gefühl, als Bürger zweiter Klasse angesehen zu werden, schwankte zwar in den Jahren, ist aber nach wie vor dominierend. 1990 waren 87 Prozent der Ostdeutschen dieser Ansicht, 1995 war dieses Gefühl noch bei 69 Prozent verbreitet, und 1998 ist es für jetzt 76 Prozent typisch.

Dabei sind die Meinungen darüber, wer mehr von der Wiedervereinigung profitiert hat, im Osten und Westen nahezu entgegengesetzt: Westdeutsche sagen zu 80 Prozent, der Osten habe von der Wiedervereinigung profitiert, im Osten sind es um 78 Prozent, die glauben, die Westdeutschen seien die eigentliche Profiteure. Die Ostdeutschen haben den Zusammenbruch ihrer Industrie nicht verkraftet, geschweige denn verstanden, warum die Ostmärkte als Absatzgebiet weggefallen sind. Sie schätzen sich zwar genauso leistungsfähig ein wie die Wessis, erleben aber, dass sie bis heute erst 60 Prozent der Produktivität des Westens erreicht haben.

Der Sozialwissenschaftler Karl Ulrich Mayer ist auf Grund einer Befragung von etwa 1000 Ostdeutschen in den Jahren von 1989 bis 1996 zu vergleichbaren Einschätzungen gekommen: Bei etwa 40 Prozent der Ostdeutschen habe sich seit der Wende die berufliche Position nicht verändert, aber 60 Prozent hätten im Durchschnitt mehr als zweimal ihre Position wechseln müssen. Für einen Teil war die Rückkehr in den Beruf mit einer schlechteren Position verbunden oder habe im Sturz in die Langzeitarbeitslosigkeit geendet.

Uwe Schlicht

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