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Gesundheit: Nackt im Sommer

Kurzes Haar und freier Hals: Die Briefe an den jungen Jean Paul zeigen neue Facetten des Schriftstellers

Als Jean Paul auf das Gymnasium kam, 1779, da mögen ihn seine Mitschüler etwas schief angesehen haben: Ein Pfarrerssohn, der sich kompliziert ausdrückt, mittellos und unordentlich gekleidet. Ein Sonderling, der schreiben will und damit bereits angefangen hatte: kleine philosophische Aufsätze, Satiren und, nicht zuletzt, Briefe. Die seien schließlich nichts anderes als „dünnere Bücher für die Welt“, meinte Jean Paul, und Bücher nur dickere Briefe ans Publikum.

Briefe zu schreiben und Romane zu verfassen gingen bei diesem bis heute schwer einzuordnendem Autor der „Gegenklassik“, der 1763 in Wunsiedel geboren wurde und 1825 in Bayreuth starb, Hand in Hand. Entsprechend umfangreich ist seine Korrespondenz. Acht Bände füllen die von der Berlin Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Briefe von Jean Paul, nun erscheinen die Briefe an ihn ebenfalls in acht zeitlich komplementär geordneten Bänden. Nur etwa ein Drittel dieser insgesamt 2200 erhaltenen Schreiben war bisher zugänglich, veröffentlicht in oft gekürzten oder verfälschten Fassungen. Den erste Band, der den Zeitraum von 1781 bis 1793 umfasst, hat die Akademie kürzlich publiziert, zwei weitere sollen noch in diesem Jahr folgen.

Der erste Leseeindruck: Ein Stück Provinztheater. Männerfreundschaften und Sorge ums Brennholz, sonntägliche Gesellschaftsbesuche und erste literarische Gehversuche. Der Kreis der Korrespondenten ist anfangs noch klein: die engen Freunde, die Mutter, der Pfarrer, der sein Mentor sein will. Erst später, als Johann Paul Friedrich Richter sich schon Jean Paul nennt, keine provinzielle Sternschnuppe mehr ist, sondern zum Kometen am Literaturhimmel der Spätaufklärung geworden ist, nimmt die Post zu: entzückte Leserinnen und große Namen – Herder, Königin Luise, Rahel Levin-Varnhagen.

1781 aber ist der Gymnasiast Richter noch gänzlich unbekannt. An seinen Erfolg glaubte er trotzdem schon und auch mancher in seiner Umgebung versprach sich viel von ihm: „Vortreflicher junger deutscher Mann – Mann von dem ich auf die Zukunft vieles der Welt verspreche – mein lieber Freund“, beginnt Pfarrer Erhard Friedrich Vogel im Mai 1781 einen der ersten erhaltenen Briefe an seinen damals gerade 18-jährigen Schützling. 1787 schreibt er: „Sie vergleichen sich sehr treffend mit einem unregelmäsigen Cometen. Ja vielleicht steigen Sie gar zuweilen über die Sonne hinauf bis in den 3ten Himmel.“

Der Zopf kommt ab

Wohl kaum einer dieser Briefe aus den frühen Jahren wäre bis heute erhalten, wäre ihr Empfänger nicht später so bekannt geworden. Es geht ums Alltägliche, um das intellektuelle Leben in der Provinz um Hof und Bayreuth, weit entfernt von den kulturellen Zentren Berlin, München oder Weimar. So entsteht beim Lesen nach und nach ein kleines Sittenportrait aus der Zeit der Weimarer Klassik und der französischen Revolution.

„Meine Hare hab’ ich mir abschneiden lassen“, schreibt Jean Paul im Mai 1782 an seine Mutter. „Sie stehen mir nach dem Ausspruche meiner Freunde besser wie meine Frisur: denn sie sind lokkicht oder ein wenig kraus.“ Gerade hat er angefangen, in Leipzig Theologie zu studieren. Zeit, dass der Zopf abkommt und der Kragen auch. Der junge Student versucht, dem engen ländlichen Leben seiner Heimat zu entfliehen. Mit ganz banalen Mitteln. Er trägt seine Hemden nun „à la Hamlet“ – vorne offen, so dass man Brust und Hals sehen kann. Zu Hause löst diese Mode Empörung aus, sie gilt als „englisch“. „Was suchen Sie damit, daß Sie mitten in Deutschland – ein Britte seyn wollen“, schreibt Pfarrer Vogel, nachdem Jean Paul auf Besuch war. „Warum gehen Sie nicht nackens? Jezt im Sommer?“, fügt er hinzu.

Eine vermeintliche Kleinigkeit. Aber der Disput ist Anlass für eine ganze Reihe von Briefen – manche ironisch, manche so ernst, dass der Jüngere meint, sich verteidigen zu müssen: „Sie irren sich ganz, wenn Sie meine Kleidung für eine blosse brittische Mode erklären; sie ist auch eine leipziger d.h. eine deutsche.“

Was auf den ersten Blick aussieht wie der klassische Streit zwischen dem bürgerlichen Mentor und dem jugendlichen Rebell, spiegelt doch auch die Gedanken der Zeit und die Auseinandersetzung mit den Idealen der Aufklärung wieder. Jean Pauls kleine Kleidungsrebellion ist auch der Versuch, sich zu emanzipieren: „Überhaupt halte ich die beständige Rücksicht, die wir in allen unsren Handlungen auf fremde Urteile nemen, für das Gift unsrer Ruhe, unsrer Vernunft und unsrer Tugend“, versucht er Vogel zu überzeugen. „An dieser Sklavenkette hab ich lange gefeilt; aber ich hoffe kaum, sie iemals ganz zu zerreissen. So begehe ich z. B. eben darum in Leipzig mit Absicht sonderbare Handlungen, um mich an den Tadel andrer zu gewönen; und scheine ein Nar, um die Narren ertragen zu lernen.“

Jean Paul versucht sich bis 1790 vor allem als satirischer Autor. Bereits 1782 druckt der Berliner Verleger und Buchhändler Christian Friedrich Voss Jean Pauls „Grönländische Prozesse“: „Dem Herrn Verfaßer der Satirischen Skizen offerire ich für das Mspt. Funfzehn Louisd’or“, schreibt Voss 1782. Für einen unbekannten Autor war das ein großzügiges Angebot. Der große Erfolg bleibt jedoch aus.

Später hat Jean Paul seinen Romanfiguren mehr als manch anderer Schriftsteller die Charakterzüge seiner Freunde und Bekannten gegeben. Das ist keine neue literaturwissenschaftliche Erkenntnis.

Die Briefe an ihn ergeben jetzt aber ein viel differenzierteres Bild des geistigen und sozialen Umfelds, in dem seine Texte entstanden sind. Da sind die Freunde aus der Schulzeit, Adam Lorenz von Oerthel und Johann Bernhard Hermann. Oerthel und Jean Paul beginnen gemeinsam in Leipzig zu studieren. Der Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns unterstützt den armen Pfarrerssohn finanziell. Sie sind enge Vertraute, die über Oerthels Jugendliebe und Jean Pauls erste literarische Versuche reden. Mitte der 1780er-Jahre wird Oerthel immer kränker. Er ahnt, dass er bald sterben wird. „Meine Schwester die Ewigkeit“, schreibt er in seinem letzten Brief an Jean Paul, „erzog mich zu meinem iezigen Zustande.“ Er stirbt 1786 im Alter von 23 Jahren, nach der Überlieferung von Christian Otto in den Armen Jean Pauls.

Freund Hermann stirbt

Zu dieser Zeit wird Jean Pauls Freundschaft mit Johann Bernhard Hermann intensiver. Hermann studiert in Erlangen und Göttingen Naturwissenschaften und Medizin, kann das dafür nötige Geld aber kaum aufbringen. „Ich habe bey mehr als 6 Personen geborgt, u. versprochen bald zu bezahlen“, schreibt Herman. Seine Briefe sind lang und voll Verzweiflung über die eigene Armut. „O könte ich doch nur des Tags 6 Stunden, so wie ich wollte, auf mein planmäsiges Naturstudium verwenden.“ Jean Paul versucht dem Freund Mut zuzusprechen: „Las dir von deinen Bedürfnissen nie die Elastizität der Seele stehlen.“ Zwei Jahre später stirbt auch Hermann im Alter von nur 28 Jahren an Tuberkulose. Der frühe Tod dieser beiden Freunde ist für Jean Paul eine einschneidende Erfahrung, die er auch literarisch verarbeitet, etwa in der „Auswahl aus des Teufels Papieren“.

Es lässt sich gut schmökern in diesem ersten Band der Briefe an Jean Paul. Da finden sich kleine Episoden des Alltags neben bissig-satirischen Kommentaren über die Mitmenschen und tief gefühlter Jugendphilosophie. Liest man die Briefe aber in chronologischer Reihenfolge, dann erfährt man auch, wie sich Jean Paul in diesen 12 Jahren in den Augen seiner Freunde vom jugendlichen Satirenschreiber zu dem viel gelesenen Autor wandelt, als der er bekannt wird.

Ein für diese Veränderung symbolischer Tag fällt in den September 1789 – Jean Pauls „Übersetzung des Leibes aus dem Englischen ins Vogtländische“, wie er es in einem Brief an Hermann nennt. Er trägt wieder Zopf und Kragen. Das Studentenleben ist vorbei, die gesellschaftliche Integration vollzogen: Familienbesuche, Abendeinladungen, Musik und Tanz im Hofer Rathaus. Er arbeitet als Hauslehrer. Ein Jahr später, nach einer Todesvision im November 1790, wendet Jean Paul sich endgültig von der Satire ab und beginnt sich mit den großen Themen seiner späteren Romane auseinander zu setzen: der Glaube an Gott, die Unsterblichkeit der Seele, die Liebe zu den Menschen.

Es ist dieser neue Jean Paul, dem die Frauenherzen zufliegen. „Mit den bewegtesten Herzen las ich in Ihrem Buch, Stellen die mich so ganz meine Lage fühlen liessen, ach!“ schreibt ihm die nahe Freundin Renate Wirth. „O, gewiß:“, fährt sie fort, „ihr seid die schönsten Stunden meines Daseyns, wo ich mich mit Ihnen Freund, über dieses schwüle Leben hinüber schwang, und mich vol der süssesten Hofnungen an einen Ort dachte, wo wir alle uns lieben werden, – und Alle glüklich sind.“ Es ist Ende des Jahres 1793. Zwei Jahre später erscheint der Hesperus, Jean Pauls großer Durchbruch. Aber schon jetzt ist er im Wesentlichen der Autor, als der er berühmt geworden ist.

Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Vierte Abteilung Band I. Briefe an Jean Paul 1781-1793. Herausgegeben von Monika Meier. Akademie Verlag, Berlin 2003, 763 Seiten in zwei Teilbänden, 99,80 Euro ( Erster Band: Briefe 1780-1793. Herausgegeben von Eduard Berend. Akademie Verlag, Berlin, 1956).

Sibylle Salewski

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