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Narbenbildung: Natürlicher Zugang

Warum bei Operationen Narben hinterlassen, wenn es auch ohne geht? Immer mehr Ärzte nutzen natürliche Körperöffnungen, um ihre Patienten schonender zu operieren

Die Frau in dem geblümten Nachthemd richtet sich in ihrem Bett auf und blickt durch das Fenster nach draußen – im Krankenhauspark scheint die Sonne, die Zweige der Bäume wiegen sich im Wind. Lange muss Sonia Kleist* nicht mehr warten, bis sie selbst wieder an die frische Luft kann.

Die mobile 75-Jährige hat eine Operation hinter sich, die bei deutschen Medizinern für Furore gesorgt hat: die Entnahme von Organteilen durch die Vagina. Das klingt paradox, ist aber durchaus praktisch und besonders schonend. Bisher werden kranke Organe oder entzündete Darmteile meist durch Schnitte im Bauchnabel und am Oberbauch entfernt – mithilfe einer Minikamera sowie mehrerer Instrumente. Dabei entstehen Verletzungen, die mehrere Wochen lang verheilen müssen. Gibt es Komplikationen, können sie sich sogar entzünden. Und es bleiben Narben zurück, die meist ein Leben lang sichtbar sind.

Sonia Kleist kann das Sana-Klinikum Lichtenberg schon wenige Tage nach dem Eingriff verlassen – ohne Narben. Ihr wurde transvaginal ein großes Stück des entzündeten Enddarms entnommen. Seit Jahren litt sie an Divertikulitis, entzündeten Darmausstülpungen, die ihr das Leben schwer machten. Sie hatte ständig Verdauungsprobleme und konnte nur noch ballaststoffreiche Kost essen. „Gartenfeste mit Grillfleisch kamen nicht mehr infrage“, erzählt sie. Um ihre gewohnte Lebensqualität wieder zurückzugewinnen, entschied sie sich schließlich für die transvaginale Entfernung des betroffenen Darmstückes. Angst vor der neuen Methode habe sie nicht gehabt, sagt sie. „Ich wurde umfassend aufgeklärt.“ Vor allem die Aussicht auf einen kurzen Krankenhausaufenthalt und auf weniger Schmerzen wegen der fehlenden Schnitte haben Kleist überzeugt.

Bei der transvaginalen Methode benutzen Chirurgen die natürliche Körperöffnung der Frau als Weg für Trokare (Ventile aus Metall), die an der inneren Scheidenwand eingeführt werden. Durch die Metallhülse können die Instrumente dann an den Ort gebracht werden, wo operiert wird. Zudem benutzen die Ärzte den Bauchnabel, um eine Minikamera in den Bauchraum zu befördern. Dafür ist lediglich ein kleiner Schnitt notwendig, der fünf Millimeter des Bauchnabels umfasst und keine Narbe hinterlässt. Auf dem Monitor können die Chirurgen dann genau verfolgen, wo die Organe und Blutgefäße liegen.

„Natural Orifice Translumenal Endoscopic Surgery“ (Notes), zu Deutsch: „endoskopische Operation durch natürliche Öffnungen“ nennen die Mediziner solche Eingriffe. Noch ist das ein „Entwicklungsfeld in der Medizin“, sagt Chirurg Jens Burghardt, der solche minimalinvasiven Operationen am Sana-Klinikum Lichtenberg durchführt. Für Patienten seien die Operationen oft schonender, weil es weniger Schnitte gebe und dadurch weniger Wundheilungsstörungen.

Der Oberarzt der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie ist ein Pionier auf dem Gebiet der transvaginalen Cholezystektomie, also der Entfernung der Gallenblase. Seit dem vergangenen Oktober hat er 90 Frauen im Alter von 23 bis 78 Jahren auf diese Weise operiert.

Seit Mai erprobt Burghardt die transvaginale Methode auch bei anderen Operationen. Entzündete Blinddärme und Dickdarmteile hat er bereits durch die Vagina entnommen. Muss die Gallenblase entfernt werden, wird sie mithilfe spezieller Instrumente samt ihren entzündlichen Steinen abgelöst und in einem Kunststoffbeutel durch die Scheide herausgezogen. Der Schnitt am empfindlichen Gallenblasengang wird mit einer Klammer verschlossen. Die Patientinnen merken davon nichts – der Eingriff erfolgt unter Vollnarkose.

Doch auch nach einer transvaginalen Operation können Schmerzen auftreten, ausgelöst durch Gas im Bauch. Denn während des Eingriffs wird Kohlendioxid in die Bauchhöhle geblasen, damit der Arzt auf dem Monitor der Minikamera ein klares Bild von den Organen erhält. Das Gas kann noch eine Weile ein Drücken in der Magengegend hervorrufen.

Sonia Kleist merkt davon nichts, sagt sie. Auch die Angst vieler Frauen, nicht mehr schwanger werden zu können, kann sie nicht nachvollziehen: „Es passiert ja nichts wirklich Verletzendes im Genitalbereich.“ Aber ihr behandelnder Arzt Jens Burghardt stellt fest, dass gerade junge Frauen mit späterem Kinderwunsch zuweilen vor der neuartigen Technik zurückschrecken: „Die sind etwas misstrauisch.“ Das Risiko von Infektionen sei aber gerade bei der Gallenblase gering, weil sich diese wie in einem zugeschnürten Turnbeutel in der Kunststoffhülle befände, wenn sie durch die Scheide entnommen werde.

Um Verbesserungen der neuen Methode gegenüber herkömmlichen Gallenblasen-Operationen zu erfassen, hat Burghardt eine Studie begonnen. Jede Patientin wird über beide Techniken informiert und kann sich anschließend entscheiden, ob sie bei der Studie mitmachen möchte – was etwa jede dritte Frau tut. Mithilfe ihrer Angaben dokumentiert der Chirurg unter anderem Schmerzempfinden, Aussehen und Wundheilung. Dazu kommen die Patientinnen auch nach der Entlassung noch zweimal zur Nachuntersuchung in die Klinik und berichten, wie es ihnen geht. „Wir untersuchen damit, ob die neue Methode genauso gut ist wie die herkömmliche“, sagt Burghardt.

Mittlerweile haben das auch andere Mediziner mitbekommen – rund 100 Kollegen von Burghardt haben sich die transvaginale OP zeigen lassen und übernehmen diese zunehmend in ihren Klinken. Auch Wolfgang Schwenk, stellvertretender Klinikdirektor der Allgemein-, Viszeral-, Gefäß- und Thoraxchirurgie am Charité-Campus Mitte bietet die transvaginale Technik an. Selbst für Männer gibt es dort bereits eine schonende Alternative: Sie bekommen einen einzigen kleinen Schnitt in den Bauchnabel. Durch diese Öffnung können dann alle Instrumente eingeführt werden.

„Die Notes-Verfahren sind ein riesiger Zukunftsbereich. Irgendwann kann man auch Speiseröhren- oder Lungentumore über natürliche Körperöffnungen entfernen“, sagt Charité-Experte Schwenk und spielt damit auf einen indischen Arzt an, der im Jahr 2006 zum ersten Mal einen entzündeten Blinddarm seines Patienten durch die Mundhöhle entfernte. Der habe den Stein ins Rollen gebracht. Und ein neues Experimentierfeld eröffnet.

*Name von der Redaktion geändert

Liva Haensel

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