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Gesundheit: Neue Hüllen für die Nervenkabel

Bei der Multiplen Sklerose sollen Stammzellen helfen – aber noch ist die Forschung nicht soweit

Man sollte keine Chance auslassen, die die Forschung bietet: Das war die Devise der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG), als sie zu Beginn vergangenen Jahres einen Brief an alle Abgeordneten des Deutschen Bundestages schickte. Das Schreiben der seit 50 Jahren bestehenden Interessenvertretung enthielt ein klares Plädoyer für die Forschung mit embryonalen Stammzellen.

Auf diese Tausendsassas unter den Zellen werden gerade bei Nerven-Erkrankungen große Hoffnungen gesetzt. Die Multiple Sklerose erscheint als ein besonders guter Kandidat. Denn bei dem Leiden, das die Nervenbahnen im Gehirn und im Rückenmark befällt, werden ganz bestimmte Zelltypen attackiert und zerstört. Dabei wird die Schutzschicht der Nervenbahnen, die Myelinschicht, angegriffen. Die Angriffe erfolgen an verschiedenen Stellen des Nervensystems. In Tierversuchen gelang es schon, durch die Zuführung von Zellen die Produktion von Myelin wieder anzukurbeln. Der Bonner Neurowissenschaftler Oliver Brüstle, der als Erster beantragte, in Deutschland mit embryonalen Stammenzellen arbeiten zu dürfen, forscht auf diesem Gebiet. All das weckt Hoffnungen.

Doch während des von der DMSG ausgerichteten Kongresses „Gateway to Progress“, der bis Mittwoch im Estrel tagte, wurden in Sachen Stammzelltherapie jedoch eher vorsichtige Töne angeschlagen. Der britische Neurowissenschaftler Neil Scolding warnte davor, die Stammzellen zu schnell vom Labor in die Klinik zu bringen. Sicherheitsaspekte müssten unbedingten Vorrang haben. Die Mahnung ist nicht zuletzt eine Lehre aus enttäuschten Hoffnungen auf eine Stammzelltherapie bei einer anderen neurologischen Erkrankung, der Parkinsonschen Krankheit.

Der Neurologe Klaus Toyka von der Uni Würzburg nannte zwei grundsätzliche Fragen, die vor einer Anwendung beantwortet sein müssen: Multiple Sklerose ist durch überschießende Immunreaktionen des Patienten auf das eigene Nervensystem charakterisiert. Werden sich solche Überreaktionen des körpereigenen Abwehrsystems nicht auch – und möglicherweise noch heftiger – gegen eingepflanzte Stammzellen richten? Zweitens: Wird es beim Menschen wie im Tierversuch gelingen, dass sich vor Ort, im Gehirn, aus den angelieferten Stammzellen auch wirklich für die Reparatur brauchbare Zellen entwickeln?

Embryonale Stammzellen sind für Forscher wichtig, um mehr über frühe Differenzierungsprozesse in der Zellentwicklung zu erfahren. Ob sie aber eines Tages auch für Therapien in Frage kommen könnten, ist strittig.

Toyka sprach von zwei Lagern innerhalb der Neurowissenschaften, und er hielt mit seiner eigenen Skepsis nicht hinter dem Berg: „Ich sehe die erhöhte Gefahr der Krebsentwicklung.“ Insgesamt betrachtet er die Stammzellen „allenfalls als einen Baustein in einem ganzen Behandlungsgebäude“. Hoffnungen setzt er einstweilen eher in die Aktivierung körpereigener Reparaturmechanismen.

Catherine Lubetzki von der Pariser Salpetrière, Präsidentin des Wissenschaftsausschusses der französischen MS-Gesellschaft, stellte in Berlin ihre Forschungen über einen speziellen Nerven-Wachstumsfaktor vor, der im zentralen Nervenssystem von MS-Kranken möglicherweise die Neubildung von Myelin fördert. Ähnliche Erfolge hatte auch schon eine australische Forschergruppe zu verzeichnen.

In welcher Form der hoffnungsvolle Wirkstoff gegeben werden könnte, ist aber noch unklar. Ein anderer möglicher Weg besteht, wie Toyka berichtete, im „Anschalten“ natürlich vorhandener Reparaturgene mit Hilfe von geeigneten Substanzen. Erste Erfolge zeigten sich mit dem Antibiotikum Minozyklin.

Am Institut für Statistik und Epidemiologie der TU München widmet sich im Sylvia Lawry Center for Multiple Sclerosis Research derweil das Projekt „Virtueller Patient“ dem Ziel, solche neuen Therapieformen für MS-Patienten schneller verfügbar zu machen. Die weltweit größte Datenbank zu MS-Studien soll bald dafür sorgen, dass bei neuen Medikamenten-Studien keine „Kontrollgruppe“ mehr gebraucht wird, die ein Scheinmedikament einnimmt. „Stattdessen wird aus Informationen über die Einnahme der Scheinmedikamente in früheren Studien rein rechnerisch ein virtueller Kontrollpatient gewonnen“, erklärte Albrecht Neiß, der Leiter des Centers.

Das Konzept ist nicht nur für die rund 120 000 Menschen interessant, die in Deutschland unter einer leichten oder schwereren Form der chronischen, bisher unheilbaren Nervenkrankheit leiden: Solche Computermodelle könnten eines Tages auch auf anderen medizinischen Forschungsgebieten Schule machen.

Adelheid Müller-Lissner

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