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Gesundheit: Ohnmacht der Gene: Erbe oder Lebensumstände?

Schon seit Jahrzehnten flammt eine Debatte immer wieder auf, wenn es um die Ursachen bösartiger Erkrankungen geht: Sind die Gene oder die Lebensumstände schuld? In der einprägsamen anglophonen Variante heißt die Frage heute: "Nature or nurture?

Schon seit Jahrzehnten flammt eine Debatte immer wieder auf, wenn es um die Ursachen bösartiger Erkrankungen geht: Sind die Gene oder die Lebensumstände schuld? In der einprägsamen anglophonen Variante heißt die Frage heute: "Nature or nurture?"

Standen in den 80er Jahren die Umweltrisiken im Mittelpunkt, so scheinen sich Forschung und Öffentlichkeit angesichts der Fortschritte der Molekularbiologie inzwischen wieder stärker auf die genetischen Grundlagen von Krebs zu konzentrieren. Denn inzwischen ist es gelungen, immer mehr genetische Mechanismen aufzudecken, die der Krebsentstehung zugrunde liegen. Man muss jedoch unterscheiden zwischen dem "genetischen Unfall" in einer einzelnen Körperzelle, einer Veränderung in der Erbinformation DNS, die letztlich jeder Tumorerkrankung zu Grunde liegt, und einer vererbten Neigung zum Krebs, die in allen Körperzellen besteht.

Eine neue Studie nun veranschlagt die Rolle der vererbten genetischen Disposition etwas höher als die Vorgängerarbeiten. Um den Anteil von Erbe und Umwelt zu ermitteln, verglichen die Forscher das Lebensschicksal von Zwillingspaaren. Zwillinge sind eng verwandt, die eineiigen unter ihnen sogar die engsten genetischen Verwandten, die wir kennen. Meist teilen sie zudem die gleichen Erziehungs- und Umwelteinflüsse. Werden sie dagegen früh voneinander getrennt, so ist die Versuchsanordnung für die "Nature-oder-Umwelt-Debatte" perfekt.

Neu an einer im "New England Journal of Medicine" (Band 343, Seite 78) veröffentlichten skandinavischen Arbeit ist vor allem das große Aufgebot an untersuchten Zwillingen: Die Daten von 44 788 Zwillingspaaren, die in schwedischen, dänischen und finnischen Registern verzeichnet waren, wurden dafür ausgewertet. Bei 10 803 der fast 90 000 Personen stellten die Forscher mindestens eine Krebserkrankung fest. Das wichtigste Ergebnis der skandinavischen Forschergruppe um den Epidemiologen Paul Lichtenstein vom Karolinska Institut in Stockholm liegt in der prinzipiellen Bestätigung der Lehrmeinung: Ererbte genetische Faktoren haben meist einen geringeren Anteil am Entstehen von Krebs als die Umwelt der Betroffenen.

Bei der Analyse einzelner Krebserkrankungen ergab sich jedoch, dass die Gene bei der Entstehung von Prostatakarzinomen offensichtlich eine bedeutendere Rolle spielen als bei allen anderen Tumoren: 42 Prozent des Risikos, so schätzen die Wissenschaftler, ist durch erbliche Faktoren zu erklären. Das passt zu der Tatsache, dass bisher für Prostatakrebs wenig Hinweise auf lebenstilbedingte Risikofaktoren vorliegen. Beim Darmkrebs veranschlagen die Mediziner den Anteil der ererbten Gene auf etwa 35, beim Brustkrebs auf 27 Prozent.

Wie Robert Hoover vom National Cancer Institute der USA in der gleichen Ausgabe der Zeitschrift kommentiert, passen diese Daten zu anderen Erkenntnissen, etwa über Brustkrebs bei Immigrantinnen: Während die Rate an Krebserkrankungen unter Frauen, die gerade erst in die USA eingewandert waren, der in ihren asiatischen Heimatländern entsprach, erkranken Asiatinnen, deren Familien schon in der dritten Generation in Amerika leben, ebenso häufig an Brustkrebs wie weißhäutige Amerikanerinnen.

Wenn in Studien dieser Art von "Umwelt" die Rede ist, so sind dabei keineswegs nur radioaktive Strahlung oder Gifte in Luft und Nahrung gemeint, sondern auch Medikamenteneinnahme und Infektionskrankheiten, vor allem aber Faktoren, die der Einzelne direkt beeinflussen kann: Ernährung, Rauchen oder Bewegung. Dass der gesamte Lebensstil sich bei einem Umzug in einen anderen Kontinent ändern kann, ist durchaus einleuchtend.

Auch im Hinblick auf den Faktor "Gene" sind allerdings Differenzierungen nötig. Dass die erbliche Komponente eine wichtige Rolle spielt, zeigt sich zunächst im Grad der geschwisterlichen Übereinstimmung: Eineiige Zwillinge erkrankten insgesamt deutlich häufiger an der gleichen Tumorart als die zweieiigen Zwillingspaare. Mit 26 bis 42 Prozent wurde der Anteil des Erbes an der Krebsentstehung zudem deutlich höher veranschlagt als in früheren Studien, die von zehn bis 20 Prozent ausgegangen waren.

Dieses Maß an Einfluss genetischer Faktoren ist nicht erstaunlich, wenn man nicht nur die seltenen Veränderungen eines Gens in Betracht zieht, die zu deutlich höheren Risiken etwa bei Brust- oder Darmkrebs führen, sondern die weit häufigeren Polymorphismen, geringfügige Variationen des Erbmaterials. Sie führen zu einem weit weniger starken Risiko, sind allerdings in der Bevölkerung auch viel weiter verbreitet.

Fatalismus sei trotzdem unangebracht. "Die absolute Wahrscheinlichkeit, dass sich eine bestimmte Krebsform bei einer Person entwickelt, deren Zwillingsgeschwister mit dem gleichen Genom und zahlreichen vergleichbaren Umweltbedingungen daran erkrankt ist, ist gering." Offensichtlich hängt es von vielen Faktoren ab, ob ein Individuum ein bestimmtes Tumorleiden bekommt.

Das sollten sich, wie Hoover betont, vor allem denjenigen Wissenschaftler gesagt sein lassen, die exakte Voraussagen nur für eine Frage ausreichender Information hielten. Der Krebsforscher mahnt mit einem Beispiel zur Vorsicht, das im weiteren Sinn ebenfalls der Zwillingsforschung zugerechnet werden könnte: Das jährliche Risiko einer Brustkrebspatientin, dass auch ihre zweite Brust erkrankt, liegt bei nur 0,8 Prozent - und das bei gleichem Genom und gleichen Umweltbedingungen.

Die Zukunft der Ursachensuche liegt für die Krebsexperten in der Verbindung genetischer Erkenntnisse mit gezielter Ermittlung lebensstilbedingter Risiken. Wer seine genetischen Risiken kennt, hat mehr Grund dazu, durch sein alltägliches Verhalten gegenzusteuern. Der Gegner Krebs ist zu stark, als dass wir es uns leisten könnten, allein auf "gesundes Leben" oder auf Gendiagnostik und Gentherapie alle Hoffnung zu setzen.

Adelheid Müller-Lissner

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