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Gesundheit: Paradoxe Wirkung

Das Schlafmittel Zolpidem soll Komapatienten geweckt haben

Nach einem Motorradunfall lag der junge Mann seit drei Jahren teilnahmslos im Bett. Er schrie zeitweise, war aber nicht ansprechbar und zeigte keine Zeichen von Sprachverständnis. Plötzlich riss ihn das Schlafmittel Zolpidem zumindest für einige Stunden aus diesem Zustand. Ein zweiter Patient konnte unter dem Einfluss des Mittels kurzzeitig bis fünf zählen, ein dritter, der fünf Jahre lang nicht hatte kommunizieren können, unterhielt sich mit seinen Eltern und nannte gar die Namen seiner liebsten Rugbyspieler.

Drei Fallberichte, die der südafrikanische Radiologe Ralf Clauss kürzlich in der Fachzeitschrift „Neuro Rehabilitation“ veröffentlichte. In Großbritannien schlugen sie in den Medien große Wellen. Ausgerechnet ein Schlafmittel soll Menschen zeitweise wiedererwecken können, die in einen „permanent vegetative state“ (PVS) gefallen sind? So nennen Mediziner es, wenn die Funktionen der Großhirnrinde dauerhaft ausgeschaltet sind. Vom Stammhirn gesteuerte Lebensvorgänge wie Atmung und Tag-Nacht-Rhythmus sind dagegen erhalten. Weil der Mantel (Lateinisch: Pallium) des Großhirns fehlt, wird das Wachkoma auch als „apallisches Syndrom“ bezeichnet.

Mike Barnes, Komaspezialist in Newcastle und Präsident des Weltverbandes für Neurologische Rehabilitation, ist ausgesprochen skeptisch, was die drei geschilderten Fälle betrifft. Er geht davon aus, dass es sich um Fehldiagnosen handelt. Das sei schon rein sprachlich-logisch zwingend, denn der Zustand der drei Männer war offensichtlich nicht „permanent“. „Wenn die Diagnose PVS stimmt, kann der Patient nicht aufwachen und antworten“, sagt Barnes. Eine Studie, die 1996 im Fachblatt „British Medical Journal“ erschienen war, unterfüttert die Annahme, dass die Diagnosen falsch waren: Darin hatte sich gezeigt, dass 43 Prozent aller überprüften PVS-Diagnosen nicht haltbar waren.

Die drei von Clauss geschilderten Fälle, bei denen sich unter dem Einfluss des Schlafmittels eine Besserung zeigte, gehören mit großer Wahrscheinlichkeit dazu. „Das Medikament könnte Formen der Erkrankung aufdecken, von denen Patienten zeitweise erwachen können“, meint Barnes. Diese Patienten befinden sich jedoch, dem internationalen Sprachgebrauch der Neurologen folgend, nicht im „vegetative state“, sondern im „minimal conscious state“ (MCS). Bei ihnen sind also zumindest Teile des Bewusstseins erhalten. Auch Barnes’ Berliner Kollege Karl-Heinz Mauritz, Leiter der Klinik Berlin, hält es für sehr unwahrscheinlich, dass die drei Männer wirklich Wachkoma-Patienten sind. „Obwohl wir in unserer Behandlung vor allem zu Beginn vielfältige Reize setzen und zahlreiche Eingangskanäle nutzen, kommen wir beim PVS leider nie sehr weit.“

Ein ähnlicher Fall wie die in Südafrika geschilderten ging erst vor wenigen Monaten durch die Presse. Auch der 42-jährige Terry Wallis aus dem amerikanischen Bundesstaat Arkansas, der 19 Jahre nach seinem schweren Autounfall erstmals wieder das Wort an seine Mutter richtete, kann im strengen Sinn nicht zu den Wachkoma-Patienten gezählt werden. Schon kurz nach dem Unfall hatte sich sein Zustand ganz leicht gebessert, so dass die Ärzte die Diagnose MCS stellten. Wallis fixierte seine Angehörigen und folgte ihnen mit den Augen, seine Mimik ließ auf Emotionen wie Freude, Angst und Verzweiflung schließen. Der junge Mann, der jahrelang von seinen Angehörigen gepflegt worden war, hatte den Berichten zufolge spontan zu kommunizieren begonnen, sein Zustand soll sich kontinuierlich gebessert haben.

Bei den drei Fällen aus Südafrika soll das Schlafmittel Zolpidem die Veränderungen dagegen jeweils nur für kurze Zeit auslösen. „So spektakulär sind diese Ergebnisse nicht“, sagt Mauritz. Schon in der Vergangenheit sei es immer wieder gelungen, mit Medikamenten – wie etwa das bei Parkinson eingesetzte L-Dopa – die Wachheit Bewusstseinsgetrübter zeitweise „hochzufahren“. Zolpidem aktiviert im Gehirn Andockstellen für den Botenstoff Gaba. Die südafrikanischen Radiologen, die die Patienten auch unter den „Scanner“ legten und über Veränderungen im Gehirn berichten, gehen davon aus, dass dort nach einem Unfall bestimmte Regionen nicht endgültig zerstört werden, sondern nur in eine Art „Winterschlaf“ verfallen.

Doch selbst wenn für einzelne Patienten mit einem MCS zutreffen sollte, dass ein gängiges Schlafmittel ihren Zustand stundenweise bessern kann: Angehörige von Menschen, die seit Jahren oder Jahrzehnten im Unterschied im tiefen Wachkoma liegen, sollten daraus nicht wirklich Hoffnung schöpfen.

Adelheid Müller-Lissner

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