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Gesundheit: Problemfall Jungen: Kakteen unter sich

Der große schlaksige Mann mustert zuerst in aller Ruhe sein Publikum. Wenige Augenblicke später wird er seinen Zuhörern erklären, was ihn noch viel mehr beunruhigt als die Idee, auf einer Bühne zu stehen und anderen Leuten zu sagen, wie sie ihre Kinder erziehen sollen: die Gefahr, dass sie es dann tun.

Der große schlaksige Mann mustert zuerst in aller Ruhe sein Publikum. Wenige Augenblicke später wird er seinen Zuhörern erklären, was ihn noch viel mehr beunruhigt als die Idee, auf einer Bühne zu stehen und anderen Leuten zu sagen, wie sie ihre Kinder erziehen sollen: die Gefahr, dass sie es dann tun. "Experten sind eine Gefahr für die Gesundheit der Familie", ruft er verschmitzt lächelnd ins Publikum und erntet gleich Gelächter und den ersten Applaus: "Wir sind geboren mit allem, was man braucht, um ein Kind gut zu erziehen, aber mit den Jahren werden die Instinkte aus uns herausgetreten. Erst mit dem Alter kriegt man seinen gesunden Menschenverstand zurück."

Was der australische Familientherapeut und Bestsellerautor Steve Biddulph da am vergangenen Samstagnachmittag vor rund 300 Zuhörern im Theatersaal des FEZ in der Wuhlheide sagt, ist in der Psychologie hochmodern: an den vorhandenen Fähigkeiten, nicht am Mangel gilt es anzuknüpfen, wenn man Eltern in ihrer Erziehungsarbeit unterstützen will. Aber er sagt es besser als so viele andere Experten, weil er die Sehnsucht nach guten, belastbaren, freudvollen und tiefen Beziehungen zwischen Kindern und Eltern weckt, anstatt einmal mehr eine ausgeklügelte Anleitung zum besseren Leben zu präsentieren.

Kein Zweifel, der Mann kommt an mit seinem Vortrag, den er spielend zur Performance steigert. Unkonventionell und frisch, mit wohldosiertem Understatement und viel Wärme bringt er die Botschaft rüber - sein Anliegen, Eltern dabei zu unterstützen, ihre Söhne zu ausgeglichenen, liebevollen und fähigen Männern heranwachsen zu lassen, glaubt ihm sein Publikum nur zu gerne. Hin und wieder unterbricht er seine Rede mit der Bitte, sich jetzt eine Minute lang mit dem Sitznachbarn über die Schwierigkeiten mit den eigenen Söhnen auszutauschen oder sich gar nach einer Stunde Stillsitzen den verspannten Rücken gegenseitig auszuklopfen - und alle machen mit.

Angelsächsischer Pragmatismus und selbstironisch unterfütterter Esprit anstelle von Belehrungen und Therapiekonzepten vermitteln eine etwas andere, liebevollere Sicht auf Söhne, schon lange bevor sie richtig schwierig werden. Bei den Jungen liegt einiges im Argen: Ihre Lebenserwartung liegt sieben Jahre niedriger als die von Mädchen, sie versagen häufiger in der Schule, sind in größerem Maß beziehungsgestört, gewaltbereit, alkohol- und drogengefährdet. Mädchen seien heute selbstbewusster, motivierter und fleißiger als ihre männlichen Altersgenossen, so Biddulphs Bestandsaufnahme. "Unsere Töchter wissen genau, wo sie hinwollen, die Jungen haben keinen Schimmer." Jungen lebten auch wesentlich riskanter als Mädchen: Mit fünfzehn Jahren sei die Gefahr, dass sie eines frühen Todes durch Unfälle, Gewalt oder Selbstmord sterben, dreimal so hoch wie bei gleichaltrigen Mädchen - "es ist offensichtlich, da läuft etwas schief".

Biddulph erzählt die Geschichte von seinem vierjährigen Sohn, mit dem er vor Jahren zum Angeln fuhr. Und wie der Junge am Strand die Angel auswirft und schon bald, umringt von alten Männern, interessierte Aufmerksamkeit genießt, während dem Vater schlagartig klar wird: Jungen brauchen Männer und umgekehrt.

Biddulph erzählt viele Geschichten. Sie handeln alle davon, daß Jungen mit ihren Vätern zu wenig zu tun haben. Der fundamentale Bruch habe sich vor etwa 150 Jahren ereignet, als mit der industriellen Revolution die Männer aus der Familie verschwanden, um zur Arbeit zu gehen, und die Frauen sich allein um die Kinder kümmern mussten. Besonders schlimm sei das für die Jungen gewesen, hätten Mädchen doch immerhin noch die Chance gehabt, mit ihren Müttern zusammenzusein und von ihnen zu lernen, eine Frau zu werden. Und die Jungen? "Wie kann man einen Strom weitergeben, wenn man nur Tropfen empfangen hat?" fragt Biddulph und spricht ein prekäres Verhältnis an. Ein knappes Drittel der Männer heute sei ihren Vätern völlig entfremdet, ein Drittel lebe zerstritten in einer, wie man in Australien sagt, Kaktus-Beziehung, ein Drittel halte Kontakt nur aus Pflichtgefühl. Nicht mehr als zehn Prozent der Männer, berichtet er aus 20 Jahren Berufserfahrung, habe ein Verhältnis zum eigenen Vater, das die Augen zum Leuchten bringe, wenn die Rede auf Papa kommt.

Werde der Sohn dann selbst Vater, will er natürlich alles anders machen - und verschanzt sich schon bald hinter einem Berg von Arbeit wie einst der eigene, überlässt tagsüber seiner Frau die Kinder und kehrt zurück, wenn der Nachwuchs schläft.

"Wir brauchen ungefähr hundert Dinge, um Jungen gut zu erziehen", sagt Biddulph mit großem Ernst, "ich nenne jetzt fünf". Für alles Wichtige brauche es vor allem Zeit, sagt er und überspringt den doch naheliegenden Hinweis auf die dazu gesellschaftspolitisch notwendigen Umschichtungen zwischen Berufs- und Familienarbeit. In den ersten sechs Jahren gehöre der Junge vornehmlich der Mutter, auch wenn der Vater eine große Rolle spiele. Zwischen dem sechsten und dem vierzehnten Lebensjahr, wenn Jungen ihre männliche Rolle erkunden, ist ihr Blick auf den Vater gerichtet, wenn auch noch fest von der Hand der Mutter aus. "Sie klinken sich beim nächsten Mann ein und dann beginnt der download."

Mit 14 Jahren schließe sich dieses Zeitfenster in der Beziehung zwischen Vätern und Kindern. Dann übernähmen die Hormone die Regie: "Jungen erfahren eine Testosteronsteigerung von 800 Prozent" mit den üblichen Folgen: Aufsässigkeit, Verweigerung, riskante Gewohnheiten. "Eine Kernfamilie allein kann kein Kind erziehen", betont Biddulph, "wir brauchen auch andere Erwachsene, die unser Kind lieben" - und rät zum Teenagertausch unter befreundeten Familien.

"Ringen und Kämpfen", der zweite Punkt, "das lernen Jungen von ihren Vätern". Überall auf der Welt rangelten kleine Jungen gerne mit anderen, älteren Jungen. Ohne Regeln gehe da gar nichts: "Lernen ein Mann zu sein, heißt lernen, den eigenen Körper zu beherrschen", sagt Biddulph und schließt den dritten Baustein an: "Jungen müssen lernen, Frauen zu respektieren" - spätestens wenn sie zwischen 12 und 14 Jahren entdeckten, dass sie größer und stärker als ihre Mutter geworden sind und die sie ja gar nicht zwingen könne, beispielsweise ihr Zimmer aufzuräumen oder den Abendbrottisch zu decken. Aber auch den zarteren Gefühlen von Jungen müsse mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden, hier seien wiederum die Mütter gefragt: "Mütter können ihre Söhne viel über Mädchen lehren und ihr Selbstbewusstsein enorm aufpolieren."

Die letzte Säule der richtigen Erziehung von Jungen kündigt Biddulph als "Wegzehrung" fürs Publikum an: "Jungen müssen Hausarbeit lernen". Ein Zehnjähriger sollte imstande sein, einmal in der Woche für die Familie zu kochen. Und während die Mütter im Saal noch begeistert applaudieren, sagt er noch einmal, worauf es ankommt: "Zeit ist das Allerwichtigste in der Familie." Zwischen Eltern und ihren Kindern gebe es magische Augenblicke, aber man wisse nie im voraus, wann sie eintreten. Kostbare Erinnerungen, von denen man ein Leben lang zehre und die sich wie Perlen auf eine Schnur fädeln, die Mütter und Väter am letzten Tag ihres Lebens zählen werden und ihre Kinder in die Zukunft tragen werden. "Dafür muss man eine Menge Zeit mit den Kindern einfach nur rumhängen", sagt Biddulph, "die Rede von der quality time - dass es ausreiche, wenig, aber gut genutzte Zeit mit den Kindern zu verbringen - ist eine große Lüge. Kinder brauchen quantity time."

Gerlinde Unverzagt

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