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PROF. TSOKOS ermittelt: Weihnachten im Sektionssaal

Einmal im Jahr wird es auch bei uns in der Rechtsmedizin besinnlich: in der Vorweihnachtszeit. Dann dekorieren die Kollegen ihre sonst eher nüchternen Büros mit Adventskränzen und Tannenzweigen, manche bringen selbst gebackene Plätzchen mit.

Einmal im Jahr wird es auch bei uns in der Rechtsmedizin besinnlich: in der Vorweihnachtszeit. Dann dekorieren die Kollegen ihre sonst eher nüchternen Büros mit Adventskränzen und Tannenzweigen, manche bringen selbst gebackene Plätzchen mit. Nur im Sektionssaal bleibt die Besinnlichkeit außen vor. Da würde niemand auf die Idee kommen, einen Weihnachtsbaum aufzustellen oder Kerzen anzuzünden, denn da müssen wir hochkonzentriert arbeiten und weihnachtliche Gefühle ausblenden.

Dafür gibt es die große Weihnachtsfeier, bei der fast alle der knapp 100 Mitarbeiter zusammenkommen. Alltäglich ist das nicht, denn immer noch ist die Berliner Rechtsmedizin auf drei Standorte in Mitte, Dahlem und Moabit verteilt. Die Feier dient also nicht nur der Motivation, sondern auch dem gegenseitigen Kennenlernen. Wie sonst soll man gemeinsam an einem Strang ziehen, wenn man nicht einmal ein paar persönliche Worte wechselt?

An den Feiertagen geht es im Sektionssaal ruhiger zu als sonst. Wir haben einen Bereitschaftsdienst, falls die Staatsanwaltschaft einen Sachverständigen an einem Tatort benötigt oder eine Sofortobduktion anordnet. Ich selbst musste an Heiligabend auch schon zu Leichenfundorten oder in den Sektionssaal. Für einen Rechtsmediziner ist das nichts Ungewöhnliches. Sobald ich aber die Arbeitsbekleidung ablege, blende ich meinen Beruf aus. Dann kann ich mich mit meiner Familie an den Tisch setzen und den Braten genießen.

Besonders in Erinnerung geblieben ist mir das Weihnachtsfest 2004. Am 26. Dezember erreichte mich die Nachricht vom Tsunami in Thailand. Gefragt, ob ich mit einem internationalen Team dorthin fliegen könnte, um den Behörden bei der Identifizierung der Leichen zu helfen, überlegte ich nicht lange. Die Feiertagsstimmung war natürlich dahin. In drei Wochen obduzierte ich 160 Tote. Die Identifizierungsquote des deutschen Teams lag bei 99 Prozent, das ist sehr hoch.

Im Vergleich zu dieser Extremerfahrung läuft hier die Arbeit zwischen den Jahren in Slow Motion. Zwar nehmen Gewaltverbrecher keine Rücksicht auf Feiertage, doch immerhin sinkt im Winter die Zahl der Suizide. Warum? Weil Menschen, die sich umbringen wollen, oft depressiv sind – sie finden sich mit ihrer dunklen Gemütsstimmung in der dunklen Jahreszeit leichter ab. Die meisten Suizide werden im Sommer begangen.

Michael Tsokos

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