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Gesundheit: Professor Speed

Heute wählt die Freie Universität einen neuen Präsidenten. Der einzige Kandidat heißt: Dieter Lenzen – ein Pädagoge, der wie ein Manager redet

Von Anja Kühne und

Dorothee Nolte

Draußen, vor den geöffneten Fenstern, blühen die Bäume, drinnen hängen die Losungen. Über dem großen, mit Zahlen bekritzelten Whiteboard steht zum Beispiel: „Speed geht vor 100-Prozent-Lösungen“. Oder: „Es gibt einen Haufen Leute, deren Geschichten handeln von Angeln, Booten und Nudelsalaten. In diesem Raum ist keiner davon.“ Es sind Dieter Lenzens Jahreslosungen. Auch makabre sind darunter, etwa das japanische Sprichwort „Wenn man lange genug am Fluss sitzt, kann man eines Tages die Leichen seiner Feinde vorbeischwimmen sehen.“ Man darf vermuten: Im Jahr 2003 wird der Mann nicht zum Angeln kommen.

Dieter Lenzen, bisher Erster Vizepräsident der Freien Universität, wird heute aller Voraussicht nach zu ihrem Präsidenten gewählt werden. Höhepunkt in der Karriere eines Mannes, der einmal als sprachbegeisterter Philosophiestudent in Münster begann und eher zufällig zur Erziehungswissenschaft fand. Dann aber schnell vorwärts kam, bereits mit 28 Jahren Professor wurde – „ich war immer jünger als meine Studenten“ – und seit 1977 an der Freien Universität Erziehungswissenschaft lehrt. Der ohne Punkt und Komma in atemberaubendem Tempo reden kann, dabei mitunter „vom Höxchen aufs Stöckchen kommt, wie man in meiner westfälischen Heimat sagt“, und locker in einem Satz Horkheimer, das preußische und das japanische Erziehungssystem sowie die „Western societies“ und „den ganzen Range“ unterbringt.

Keine Berührungsängste

Die Anglizismen in Lenzens Sprache haben Methode. Speed! Soft skills! Face-to-face-situation! Der 56-Jährige tritt nicht als würdiger Herr auf wie sein Vorgänger Peter Gaehtgens, er wirkt hemdsärmelig auch im Nadelstreifenanzug, zupackend, auch wenn er Schleiermacher zitiert. Aber er will sich nicht auf das Bild des pragmatischen Machers festlegen lassen, bei aller Nähe zum Vokabular der Manager. Ein Blick in seine Publikationsliste zeigt einen breiten Horizont. Seine Aufsätze und Bücher behandeln bildungspolitische, pädagogische ebenso wie kulturanthropologische Themen, von den „Argumentationsritualen in der Sportpädagogik“, über „Wandlungen des Kinderspiels in Deutschland und Japan“ bis hin zur „Todesverdrängung im Lebenslauf“ oder „Geschichte des Vaterkonzepts in Europa“. Zuletzt gab er Niklas Luhmanns „Das Erziehungssystem der Gesellschaft“ heraus. Vielseitig ist er und zugänglich: sicherlich ein Grund dafür, warum Lenzen der meist interviewte Berliner Wissenschaftler zu Schul- und Erziehungsfragen sein dürfte.

Wie man Bildungsinstitutionen verändern kann, beschäftigt Lenzen schon seit seiner Kindheit – seit jenen Jahren, als er in Westfalen auf der Schulbank saß und feststellte: „Da blieb immer ein Schweißfleck auf dem Tisch zurück, wenn man die Hand hob. Wir hatten Angst. Das waren andere Zeiten.“ Unter der Schule der fünfziger, sechziger Jahre hat er gelitten. Und leitet aus dieser Erfahrung eines seiner Lebensthemen ab: dass niemand unter dem Lernen leiden soll. „Im Gegenteil, Lernen ist dazu da, Leiden zu vermeiden.“ Deshalb engagierte er sich in den Siebzigern, auch im nordrheinwestfälischen Kultusministerium, für Bildungsreformen und Gesamtschulen. Die Bilanz fällt gemischt aus. „Wir haben die Angst und den Druck aus den Schulen rausgenommen, das war gut. Aber wir haben nicht gefragt, ob wir die Qualität gefährden.“ Heute fühlt sich der Vater dreier Söhne, der auch Mitglied der Kommission zur Förderung Hochbegabter des Landes Berlin ist, „moralisch verpflichtet“, an den Nachjustierungen der damaligen Reformen mitzuwirken – jetzt, wo man auf empirisch fundierte Studien wie Pisa, Timms und Iglu zurückgreifen kann.

Lenzen ist der einzige Bewerber um die FU-Präsidentschaft – der einzige, der sich das Amt angesichts neuer gewaltiger Sparvorgaben aus der Politik zutraut. Die Professoren und Mitarbeiter des Akademischen Senats der Uni haben ihn hoffnungsvoll mit 20 Ja- und nur einer Gegenstimme nominiert. Lenzen gibt sich optimistisch, er will zeigen, „dass man diese schwierige Situation doch meistern kann“. Mehr noch: In Zeiten, wo die gesamte Bevölkerung den Gürtel enger schnallen muss, sieht er die Universitäten in der moralischen Verpflichtung mit gutem Beispiel voranzugehen: „Wir können nicht nur immer sagen ,her mit dem Geld, aber wir wollen uns nicht verändern’.“

Lenzen hat in den vergangenen vier Jahren als Erster Vizepräsident der größten Berliner Hochschule bereits demonstriert, in welche Richtung der Wandel gehen soll. Er hat mit den Fachbereichen Verabredungen über neue Ziele getroffen, die sie erreichen müssen, um mit mehr Geld belohnt zu werden. Seitdem bringt die Uni zehn Prozent mehr Leistung – etwa in der Zahl der Veröffentlichungen oder beim Einwerben von Drittmitteln, rechnet er vor.

Ohne Berührungsängste ist er auf die Unternehmer der Region zugegangen, um „strategische Partnerschaften“ zu bilden, stolz erzählt er von der Firma für Personaldienstleistungen, die der FU zur Hälfte gehört und bereits schwarze Zahlen schreibt. Lenzen will nicht nur, dass die Universität sich so neue Einnahmequellen erschließt, sondern auch, dass Studenten sich dort „bei gebremstem Risiko aber in vollem Ernst“ für die Berufspraxis üben können. Denn, das ist seine Grundüberzeugung, Lernen braucht „Realitätsanreicherung“, egal ob in der Schule oder in der Universität. Die Theorie muss ins Leben eingebunden, im Leben ausprobiert werden. „Belehren funktioniert nicht“, sagt er, es kommt darauf an, ein anregendes Lernklima zu schaffen. Und die Uni-Absolventen auf eine Welt vorzubereiten, in der sie womöglich „längere Zeit arbeitslos sind, dann eine gute Stellung haben und nach ein paar Jahren wieder den Beruf wechseln müssen“ – auf Lebensläufe also, die sich von seinem eigenen stark unterscheiden. Der ist ja eher geradlinig verlaufen, und – von Aufenthalten als Gastprofessor in Japan abgesehen – sesshaft.

„Effektivität“ ist eins der Wörter, die Lenzen immer wieder im Munde führt, ein weiteres lautet „Qualität“. Darauf soll die Freie Universität hinarbeiten, die bislang viel zu lange Studienzeiten und viel zu hohe Abbrecherquoten hat. Um die akademische Welt vom Fleck zu bewegen, setzt Lenzen betriebswirtschaftliche Hebel an wie „Kosten-Leistungsrechnung“ und „Controlling“. Unternehmergeist soll fortan auch in die Berufungspolitik einziehen. Lenzen will es durch „Headhunting“ schaffen, die richtigen Professoren und Professorinnen zu finden, anstatt der zufälligen Wirkung von Stellenausschreibungen zu vertrauen. Er könnte sich auch vorstellen, die Bewerber durch Assessmentverfahren zu schicken, „damit man auch einen Blick auf die Person bekommt“.

Lenzens Botschaften, die so oft eher wie die eines Managers als die eines Erziehungswissenschaftlers klingen, könnten auf dem schweren und in manchem noch altmodischen Tanker FU als allzu stromlinienförmig bewertet werden und allergische Reaktionen hervorrufen. Doch hat die Besatzung den Ernst der Lage längst erkannt. Die einst von schweren internen Grabenkämpfen gebeutelte FU hat in den letzten zehn Jahren angesichts der existenziellen Bedrohung zu einem Burgfrieden gefunden.

Großer Kommunikator

Vor allen Dingen aber hat sich Lenzen in seiner Zeit als Erster Vizepräsident als Kommunikator bewährt. Kontaktfreudig ist er auf die Verwaltungsleiter zugegangen, die früher zum Präsidium der Uni keinen direkten Draht hatten, hat sich mit den Dekanen zusammengesetzt, um mit ihnen gemeinsam zu überlegen, wie die neu gewonnene Autonomie der Hochschulen an der Basis sinnvoll umgesetzt werden kann – „da, wo Wissenschaft gemacht wird“.

Lenzen beschreibt seine Amtszeit im Gespann mit Peter Gaehtgens als Phase, in der die Freie Universität wieder ihr Selbstbewusstsein zurückgewonnen hat. „Wenn Sie einen Menschen oder eine Institution 30 Jahre lang beschimpfen, ihr immer wieder sagen, dass sie überflüssig ist, stört und schuld ist am Elend der Gesellschaft, muss sie das schließlich selber glauben“, sagt er und klingt nun doch wie ein Pädagoge: „Die Leute werden defätistisch, ressentimentgeladen und zynisch.“ Lenzen ist davon überzeugt, dass die FU „aus dieser Stimmung auf jeden Fall ein Stück weit raus“ ist.

Lenzens Vorgänger Peter Gaehtgens hat gesagt: „Die Universität ist keine Schraubenfabrik“, und so sieht es auch der neue Präsident. Bei allem Streben nach Effektivität soll die Universität ihre aus dem 19. Jahrhundert stammende Aufklärungsfunktion nicht aus den Augen verlieren, die Gesellschaft „reflexionsfähig“ halten, sagt Lenzen. Den bevorstehenden neuen „Kürzungszumutungen“ aus der Politik will er mit seiner Idee einer „Cluster-Universität“ begegnen. Die FU soll sich überlegen, welche Schwerpunkte sie setzen möchte. Wenn es gelingt, die nicht direkt zu den Clustern gehörenden Fächer auf die Schwerpunkte zu beziehen, muss vielleicht kein Fach abgewickelt werden –, sondern nur manches kleiner werden, hofft er. Und blickt auf das blaue Plakat an seiner Bürowand: „FU im Aufbruch – Gemeinsam für eine zukunfts- und wettbewerbsfähige Freie Universität“. Eine Vier-Jahres-Losung für alle Uni-Mitglieder? 100-Prozent-Lösungen wird auch Lenzen nicht erreichen. Aber Speed dürfte er vorlegen.

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