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Psychatrie: Normal verrückt

Ab wann die Seele behandlungsbedürftig ist, war Thema auf dem Psychiatriekongress. In der Diagnostik der besonders gefürchteten Alzheimer-Demenz gibt es inzwischen Fortschritte.

Kennen Sie den? Er habe einen Patienten, der halte sich für ein Taxi, erzählt der Psychiater seinem Freund. „Sehr praktisch, er bringt mich nach jeder Sitzung nach Hause!“ Oft hört man sie nicht mehr, diese verharmlosenden „Irren“- und Psychiaterwitze. Längst gibt es keinen ernsthaften Streit mehr darüber, dass Menschen auch wegen seelischer Leiden ärztliche Behandlung brauchen können. Der Teufel steckt eher im Detail: wie man herausfindet, was der Betroffene hat, welche Methoden man dafür verwendet und wie man „noch gesund“ von „schon krank“ abgrenzen kann. Die Diagnostik war nun auch Schwerpunktthema beim diesjährigen Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN), der am Sonnabend im Berliner ICC zu Ende ging.

Ein Anlass für diesen Fokus war, dass die einschlägigen Krankheitsklassifikationssysteme – die International Classification of Diseases (ICD-10) und das vor allem in den USA gebräuchliche Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-IV) – in den nächsten Jahren überarbeitet werden sollen. Laut Kongresspräsident Wolfgang Gaebel von der Uni Düsseldorf lieferten diese Systeme bislang durchaus zuverlässige Diagnosen. Nancy Andreasen vom Clinical Research Center wies allerdings auf die Gefahr hin, dass sich junge Kollegen zu sehr auf die Manuale verlassen und nur noch Checklisten abarbeiten würden: „Sie sind nur ein möglicher Rahmen und keineswegs der Koran.“

Ganz pragmatisch geht man bei der Feststellung einer behandlungsbedürftigen Störung heute von einer Funktionseinschränkung aus. Schließlich stünde, sagte Wulf Rössler von der Psychiatrischen Uniklinik in Zürich, für die meisten Hilfesuchenden im Zentrum, dass sie etwas nicht mehr könnten – als Beispiel nannte er die Unfähigkeit, einen Tag zu strukturieren. Zweites wichtiges Kriterium sind die schädlichen Auswirkungen der Funktionsstörung – etwa dass man die Arbeit verliert.

Im Zuge ihrer Revision fordern manche Ärzte eine Erweiterung der Diagnosen, so auch Michael Linden, Leiter des Reha-Zentrums Seehof in Berlin-Teltow. Der Psychiater bekennt sich zu seiner Betätigung als „Krankheitserfinder“ – wohl wissend, dass es sich dabei um ein Etikett handelt, das der Journalist Jörg Blech den Ärzten und der Pharmaindustrie vor einiger Zeit in kritischer Absicht anheftete. Linden betont jedoch, dass es den Behandlungserfolg erhöhe, wenn psychische Störungen feiner differenziert würden, und spricht sich für die Aufnahme der „Posttraumatischen Verbitterungsstörung“ in die Manuale aus. Laut Linden sind Betroffene von solch einer Verbissenheit, dass sie sich und andere gefährden würden.

In der Diagnostik der besonders gefürchteten Alzheimer-Demenz gibt es inzwischen Fortschritte, die es möglich machen, Vorboten der Krankheit zu einem Zeitpunkt zu erkennen, zu dem die Betroffenen noch nicht unter Symptomen leiden. So könnten im Nervenwasser schon vier bis sieben Jahre vor dem Auftreten der typischen Symptome biochemische Veränderungen beobachtet werden, wie Jens Wiltfang von der Uni Erlangen berichtete. Die Biomarker – Beta-Amyloidpeptide und Tau-Proteine – finden sich auch im Blut der Betroffenen, allerdings mit großen Schwankungen, so dass ein einfacher prädiktiver Alzheimer-Bluttest nach Wiltfangs Einschätzung längst noch nicht in Sicht ist.

Zahl der Alzheimerkranken wächst

Dass die Zahl der Alzheimer-Kranken in den nächsten Jahrzehnten wachsen wird, ist eine unbestrittene Tatsache in einer ständig alternden Gesellschaft. Doch gilt das auch für andere psychiatrische Erkrankungen? Die alarmierenden Zahlen vom Bundesgesundheitssurvey lassen es befürchten. Nach dieser Erhebung hat etwa ein Drittel der Bevölkerung innerhalb jedes Jahres eine kürzere oder längere Episode einer psychischen Störung, die den Kriterien des Diagnosesystems DSM-IV genügt. Der Psychologe Hans-Ulrich Wittchen von der TU Dresden, der maßgeblich am Survey beteiligt war, wehrte sich beim Kongress gegen die Kritik, dass diese Zahlen zu hoch gegriffen seien. „Die Kriterien sind hart, es gibt keine Hinweise für eine Überschätzung oder dafür, dass wir die Schwellenwerte zu niedrig angesetzt hätten.“ Aber die Frage, ob seelische Leiden in den letzten Jahren wirklich zugenommen hätten, konnte auch Wittchen nicht klar beantworten; er sagte, vor allem die Bereitschaft der Menschen, über solche Belange zu reden, habe zugenommen.

Möglicherweise gilt das auch für die Behandler selbst. Jedenfalls war beim diesjährigen Kongress eine Veranstaltung binnen kurzem wegen hoffnungsloser Überfüllung geschlossen. Ihr Thema: „Burn-out bei Ärzten“.

Adelheid Müller-Lissner

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