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Pubertät: Frühreif oder Spätzünder?

Kommen die meisten Mädchen und Jungen heute tatsächlich früher in die Pubertät? Und was spielt eine Rolle bei der sexuellen Entwicklung? Eine Studie und viele Fragen.

WAS GIBT EIGENTLICH DEN ANSTOSS FÜR DIE PUBERTÄT?

Eltern haben es schon immer geahnt. „Die Pubertät beginnt im Kopf“, sagt jemand, der es wissen muss – die Kinderärztin und Hormonspezialistin Annette Grüters-Kieslich, Ärztliche Leiterin des Charité -Zentrums für Frauen-, Kinder- und Jugendmedizin. Sie meint, wenn sie vom Kopf spricht, allerdings nicht primär die seelischen und geistigen Veränderungen, die den Jugendlichen und ihren Mitmenschen in dieser Phase oft das Leben schwer machen. Die Endokrinologin denkt an die Schaltstelle Hypothalamus, die Hirnanhangsdrüse, einen Teil des Zwischenhirns, in dem zahlreiche Körperfunktionen reguliert werden. Von dort nämlich kommt der Befehl zur Ausschüttung der Hormone FSH (follikelstimulierendes Hormon) und LH (luteinisierendes Hormon). Diese beiden sind es, die die Keimdrüsen der Jungen anregen, Testosteron zu bilden, während die der Mädchen auf den Wink von der „Zentrale“ mit der Produktion des weiblichen Geschlechtshormons Östrogen beginnen.

Ganz zufrieden sind die Wissenschaftler mit diesen Antworten aber noch nicht. „Keiner weiß bisher so genau, warum die Hirnanhangsdrüse zu einem bestimmten Zeitpunkt mit der Ausschüttung von LH beginnt“, gibt Grüters-Kieslich zu bedenken. Durch die Untersuchung von Menschen, die besonders spät in die Pubertät kamen und in deren Familien es auch anderen so ging, kam man in dieser Frage allerdings jetzt einen Schritt weiter: Man fand bei ihnen einen genetischen Defekt an einer Andockstelle für einen Nervenbotenstoff, der in der Hirnanhangsdrüse gebildet wird. Dieser Botenstoff, ein Eiweiß namens Kisspeptin, scheint folglich – allein oder zusammen mit anderen – das Startsignal für den sexuellen Reifungsprozess zu geben.

KOMMEN KINDER HEUTE FRÜHER IN DIE PUBERTÄT?

Wenn man in großen Zeiträumen denkt, kann man die Frage mit Ja beantworten. Ein guter Anhaltspunkt ist bei den Jungen der Stimmbruch. Dass die Stimme tiefer wird, ist eine Folge des Wachstums von Kehlkopf und Stimmlippen unter dem Einfluss der männlichen Geschlechtshormone. Aufzeichnungen des Leipziger Thomaner-Chors aus vergangenen Jahrhunderten belegen, dass dessen Mitglieder zu Bachs Zeiten oft noch mit 16 bis 17 Jahren Sopran singen konnten. „Heute kommen sie im Schnitt schon mit 14 Jahren in den Stimmbruch, viele von ihnen sogar schon mit zwölf oder 13“, sagt der Hals-Nasen-Ohren-Arzt Michael Fuchs. Der Leiter der Abteilung für Stimm-, Sprach- und Hörstörungen der Uniklinik Leipzig betreut die Thomaner seit Jahren.

Das heißt aber noch nicht, dass sich die körperliche Reifung immer weiter in immer jüngere Jahre vorverlegen würde. „Allgemein besteht zwar der Eindruck, dass die Kinder immer früher in die Pubertät kommen, wir haben aber keine harten Daten, die das bestätigen“, sagt Grüters-Kieslich. Untersuchungen aus den USA haben zwar ergeben, dass sich auch die Brust der Mädchen heute eher zu entwickeln beginnt. Doch die Zuverlässigkeit der Ergebnisse ist fraglich. Der Grund: Wer im großen Maßstab gesunde Mädchen dieser sensiblen Altersgruppe untersuchen möchte, muss diskret vorgehen. Dann ist, durch ein T-Shirt hindurch, Brustdrüsengewebe nicht leicht von Fettgewebe zu unterscheiden. Bei molligeren Mädchen könnte der Beginn der Pubertät bei dieser Vorgehensweise oft zu früh datiert worden sein.

Als erstes Zeichen für den Beginn der männlichen Pubertät betrachten Mediziner die Zunahme der Größe der Hoden. Auch hier fehlen gute wissenschaftliche Ergebnisse zum Durchschnittsalter, weil es mindestens so heikel ist, im Rahmen einer Feldstudie Tausende gesunder Jungen abzutasten und zu vermessen.

WAS GIBT ES DAZU NEUES AUS DER FORSCHUNG?

Für eine Berliner Studie, deren erste Ergebnisse jetzt vorliegen, haben Charité-Forscher deshalb ein anderes Vorgehen gewählt. Die Untersuchung läuft im Rahmen des EU-Projekts „Pioneer“, das dem Zusammenhang zwischen Genen und Umweltfaktoren und deren Einfluss auf den Beginn und den Ablauf der Pubertät in Europa auf die Schliche kommen soll. 1642 Mädchen zwischen zehn und 15 Jahren aus verschiedenen Berliner Schulen wurden dafür nach dem Zeitpunkt ihrer ersten Monatsblutung befragt. „Unser Ziel war, erstmals möglichst viele Mädchen ‚punktgenau’ um die Menarche herum zu erwischen“, sagt Heiko Krude vom Institut für Experimentelle Pädiatrische Endokrinologie der Charité. Denn es ging auch um Größe, Gewicht und Körperproportionen der Teilnehmerinnen. All das ändert sich in den Monaten nach der ersten Blutung meist rapide – und die Angaben aus der Erinnerung fallen ungenau aus. Hier war es anders: Immerhin 300 der Mädchen hatten innerhalb des letzten halben Jahres vor der Befragung das einschneidende Erlebnis der ersten Blutung gehabt. Und das war nicht erstaunlich früh, sondern passierte im Schnitt mit zwölfeinhalb Jahren.

WER STELLT DIE WEICHEN FÜR DIE ENTWICKLUNG?

Die Charité-Forscher konnten bei dieser Gelegenheit zugleich eine wichtige frühere Annahme bestätigen und präzisieren: Übergewichtige Mädchen kommen früher in die Pubertät, und zwar im Schnitt ein halbes Jahr eher als ihre Altersgenossinnen. Krude drückt es der Klarheit halber noch einmal umgekehrt aus: „Je jünger ein Mädchen ist, wenn es seine erste Regelblutung hat, desto höher muss sein Gewicht im Verhältnis zur Größe, also sein Body-Mass-Index (BMI), sein.“

Dabei spielt anscheinend wiederum ein Hormon eine Rolle: Leptin, das von den Fettzellen des Körpers produziert wird und für das Entstehen des Hungergefühls entscheidend ist. Leptin gibt aber auch der Hirnanhangsdrüse Rückmeldungen über die Fettreserven des Körpers. Weil diese für eine Schwangerschaft wichtig werden können, hat es seinen guten Grund, dass untergewichtige Mädchen ihre Periode später bekommen und sie bei Magersüchtigen ganz ausbleibt.

KANN MAN DIE ENTWICKLUNG IN EXTREMFÄLLEN BREMSEN?

„Wir sind dabei, besser zu verstehen, was die Pubertät frühzeitig auslöst“, sagt Annette Grüters-Kieslich. Leptin scheint nur ein Baustein zu sein, sicher spielen auch die Gene eine Rolle. In ganz seltenen Fällen stecken Tumorerkrankungen dahinter oder eine angeborene Störung der Kortisonbildung in der Nebenniere – meist aber geben die Steuerhormone des Gehirns das Startsignal einfach besonders früh. Oft sind auch die Eltern der Frühentwickler selbst schon früh in die Pubertät gekommen. Mit Medikamenten, die ihre Freisetzung hemmen, kann man gegen die extreme „pubertas praecox“ angehen. Das kann aus psychologischen Gründen wichtig sein, aber auch, damit das Wachstum der Kinder nicht vorzeitig stoppt.

WANN BRAUCHEN SPÄTZÜNDER EINE THERAPIE?

Darunter, dass die körperliche Entwicklung zu spät beginnt, leiden die Betroffenen selbst am meisten. Und das sind häufiger Jungen als Mädchen. In seltenen Fällen sind Veränderungen der Geschlechtschromosomen der Grund. „Meist aber wird einfach zu spät oder zu wenig FSH und LH ausgeschüttet“, sagt Krude. Wer sexuell langsamer reift, hat meist auch erst später einen Wachstumsschub als die Altersgenossen. Wenn es nötig ist, kann bei den Jungen mit Testosteron, bei Mädchen mit Östrogen nachgeholfen werden. „Oft ist es wichtig, in die Beratung Psychologen einzubeziehen, die auf Kinder und Jugendliche spezialisiert sind“, sagt Krude.

Neue Erkenntnisse über die langsame Reifung verdanken die Forscher Untersuchungen in Familien mit einer Krankheit namens Kallmann-Syndrom. Sie geht mit Störungen des Geruchssinns und verzögerter körperlicher Entwicklung einher. Möglich, dass eines Tages Botenstoffe wie Kisspeptin zur Behandlung eingesetzt werden können.

Adelheid Müller-Lissner

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