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Gesundheit: Rad fahrende Frauen verstießen gegen den guten Ton und galten zudem als erotoman

Resolut rafft die Dame ihre knöchellangen Röcke. Den schwarzen Schleier, der die vornehme Blässe ihres Gesichts vor der Sonne schützen soll, stülpt sie weit über die Nasenspitze.

Resolut rafft die Dame ihre knöchellangen Röcke. Den schwarzen Schleier, der die vornehme Blässe ihres Gesichts vor der Sonne schützen soll, stülpt sie weit über die Nasenspitze. Dann stellt sie den Schuh aufs Pedal und setzt sich vorsichtig auf den Sattel. Das Dienstmädchen, das soeben um die Ecke biegt, guckt neugierig. Radelt die Gnädige heute wieder zum Tiergarten? Erst neulich hatten ihr freche Straßenjungen ein Stöckchen in die Speichen gesteckt. Auch die Nachbarsfrau lästert: Fahrrad fahren? Das schickt sich nicht für eine feine Dame. Und es gehört sich schon gar nicht, dass sie ohne männliche Begleitung unterwegs ist.

So ungefähr muss es in Deutschland gegen Ende des 19. Jahrhunderts gewesen sein, als sich die ersten Frauen aufs Fahrrad wagten. Der Drahtesel war damals kein Gebrauchsgegenstand, sondern modischer Luxus für das wohlhabende Bürgertum. "Berlin war eine Hochburg der Radlerinnen", sagt die Historikerin Dörte Bleckmann. Die 32Jährige Redaktionsassistentin hat soeben ihre Magisterarbeit veröffentlicht, in der sie die zeitgenössischen Debatten um das Frauenrad fahren darstellt. Das Material wird ergänzt durch köstliche Schwarz-Weiß-Aufnahmen und Karikaturen, die frisch ondulierte Bürgerinnen in flotten Rüschen-Blusen auf dem hohen Drahtross zeigen.

Rad fahrende Frauen verstießen gegen die Etikette und zum Teil auch gegen das Modediktat. Denn um sich freier bewegen zu können, verzichteten viele auf das Korsett und holten gar die praktischen Pumphosen aus dem Schrank. "Doch sobald sie abstiegen, zogen sie wieder einen Rock drüber", hat Dörte Bleckmann anhand von Zeitschriften recherchiert. Die Autorin ist selbst begeisterte Radlerin. Als Schülerin bastelte sie sich eigenhändig einen Drahtesel zusammen. Zu ihrem Arbeitsplatz in einer PR-Agentur fährt Bleckmann im Sommer mindestens zwei Mal wöchentlich mit dem Rad. Dabei legt sie immerhin 17 Kilometer zurück. Ihren Freund, wegen dem sie zu Jahresbeginn aus Hamburg in die Hauptstadt zog, hat sie auch übers Radeln kennengelernt. Er besitzt - einen Fahrradladen.

Das Buch, in einem ostdeutschen Ein- Personen-Verlag erschienen, ist denn auch ein großer Erfolg. Von vielen Seiten kommt positive Resonanz, ist doch das Thema zugleich informativ und amüsant. Dörte Bleckmann hat die Examensarbeit, die sie an der Universität Hamburg einreichte, noch einmal gründlich überarbeitet. Die einzelnen Kapitel lesen sich jetzt wie ein spannender Streifzug durch die Sittengeschichte des 19. Jahrhunderts. Dabei ist das Buch keine feministische Kampfschrift. "Die Frauen haben ja nicht gleich das Wahlrecht bekommen, weil sie geradelt sind", sagt Bleckmann. Trotzdem, meint sie, habe das Rad zur schrittweisen Emanzipation beigetragen. In medizinischen und Wochenzeitungen äußerten Ärzte und andere Zeitgenossen ihre Bedenken, ob Rad fahren wohl mit der zarten Natur des Weibes im Einklang stehe. Befürworter meinten jedoch, dass die Fahrt der weit verbreiteten weiblichen Kränklichkeit entgegenwirken könne. Schlaflosigkeit, Darmträgheit, Appetitlosigkeit und andere Geißel der Damenkränzchen würden auf diese Weise bekämpft. Aufgeschlossene Frauen berichteten, welche Freuden ihnen das Fahrrad bereitete. Sie entflohen damit der Enge des Hauses und fühlten sich beim Pedaletreten, als ob sie durch die Luft flögen.

Vor der massenhaften Produktion des Autos war das Fahrrad eines der schnellsten individuellen Gefährte. Doch seine Einführung wurde von vielen mit Misstrauen beäugt. Auch männliche Fahrer sahen sich anfangs dem Spott der Passanten ausgesetzt. Kutscher witterten die Konkurrenz und klagten, dass ihre Pferde scheuten. Erst um 1900, sagt Dörte Bleckmann, war das Fahrrad in Großstädten wie Berlin selbstverständlicher Bestandteil des Straßenverkehrs. Die weniger begüterten Arbeiter konnten sich trotzdem erst dann einen eigenen Drahtesel leisten, als vor dem Ersten Weltkrieg die Preise dramatisch fielen. Auch in diesen Kreisen stiegen übrigens zuerst die männlichen Familienoberhäupter auf den Sattel.

In den Zeitschriften der Jahrhundertwende wetterten derweil die Konservativen, das Fahrrad sei gefährlich für den weiblichen Unterleib. Ein Zeitgenosse unterstellte sogar, dass die Radlerinnen es zur vielfachen und unauffälligen Masturbation nutzen würden. Das Sitzleder könne so lose eingestellt werden, dass es "im Verein mit dem Sattelknopf gegen Vulva und Clitoris angelegt werden und bei der Bewegung der Extremitäten regelmässige Friktionen ausüben" könne. Derselbe Mann sorgte sich auch um seine Geschlechtsgenossen. Diese müssten nämlich wiederholt die Reise unterbrechen, "da starke und andauernde Erectionen sie hindern, auf dem Fahrrade zu verbleiben."Dörte Bleckmann: Wehe, wenn sie losgelassen! Maxime Verlag, Leipzig 1999, 176 Seiten, 32 Mark, ISBN 3-931965-04-X.

Josefine Janert

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