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Gesundheit: Rückkehr zur vermeintlich heilen Welt

Der Stand der Dinge: Unter diesem Titel berichten renommierte Geistes- und Sozialwissenschaftler über den Forschungsstand ihrer Disziplin. Welcher Begriff hat gerade Konjunktur, worüber wird diskutiert?

Der Stand der Dinge: Unter diesem Titel berichten renommierte Geistes- und Sozialwissenschaftler über den Forschungsstand ihrer Disziplin. Welcher Begriff hat gerade Konjunktur, worüber wird diskutiert?

Von Martin Riesebrodt

Als politisches Schlagwort hat sich der Begriff „Fundamentalismus" erst im Verlauf der letzten zwanzig Jahre etabliert. Anlass dafür war die völlig unerwartete dramatische Rückkehr der Religionen auf die politische Bühne, die von den Vereinigten Staaten von Amerika über Polen, Israel und Palästina, nach Ägypten, Iran, Indien, Sri Lanka und Indonesien reichte. Selbst im säkularen Europa sah man den Zerfall Jugoslawiens entlang religiöser Grenzen. All solche Phänomene politischer Mobilisierung religiöser Bewegungen und Organisationen werden häufig mit dem Sammelbegriff des Fundamentalismus abgedeckt. Nicht selten wird darunter alles „Fremdartige" und „Bedrohliche" subsumiert, ob es sich nun um religiöse Einwandererkulturen oder um religiöse Terroristen handelt. Die Herkunft des Begriffs liegt jedoch nicht in exotischer Ferne, sondern im christlichen Westen.

Historisch hat sich der Fundamentalismusbegriff innerhalb des amerikanischen Protestantismus herausgebildet. Dort etablierte er sich zur Bezeichnung einer theologisch konservativen Sammlungsbewegung, welche die wörtliche Bibelinterpretation gegen historisch-kritische Lesarten verteidigte. Fundamentalisten insistierten auf der biblischen Schöpfungslehre und wollten verhindern, dass Darwins Evolutionstheorie an öffentlichen Schulen gelehrt wird. Daneben machten sie den Abfall vom Glauben für den Niedergang der Moral, wie Prostitution, Wettspiel oder Alkoholkonsum, verantwortlich. Der Fundamentalismusbegriff diente lange Zeit als Selbstbezeichnung solcher Gruppen, wurde nach dem zweiten Weltkrieg aber weitgehend vom weniger belasteten Begriff des Evangelikalismus abgelöst.

Die Übertragung eines ursprünglich christlich-protestantischen Begriffs auf Bewegungen innerhalb des Judentums, Islam, Hinduismus oder Buddhismus ist in vielerlei Hinsicht problematisch. Zum einen gibt es eine Vielzahl theologischer und kultureller Unterschiede zwischen ihnen, zum anderen lehnen sie den Fundamentalismusbegriff meist als unpassend ab. Dennoch macht es aus meiner Sicht Sinn, den Begriff zu verwenden, da es kulturübergreifende Merkmale gibt, anhand derer man den Fundamentalismus charakterisieren kann.

Oft wird der Fundamentalismus als ein Aufstand gegen die Moderne bezeichnet. Doch dies ist zu unspezifisch. Denn zum einen lehnen Fundamentalisten die Moderne gar nicht total, sondern selektiv ab, zum anderen ist die westliche Moderne ja nicht nur Fundamentalisten problematisch. Die dramatischen Transformationsprozesse der Industrialisierung, Bürokratisierung, Demokratisierung und Säkularisierung stellen jede Generation vor neue Probleme.

Was Fundamentalisten kennzeichnet, ist ihre spezifische Kritik der Moderne und ihre Vision zu ihrer Überwindung. Was als bedrohend empfunden wird, sind weniger technische oder wissenschaftliche Neuerungen, sondern primär der Zusammenbruch traditioneller Sozialmoral, Sexualmoral und Geschlechterbeziehungen. Ähnlich wie im extremen Nationalismus wird die Rückkehr in einen ursprünglichen Zustand der „Reinheit" als Lösung des Problems angesehen. Sofern es sich um eine ethnische Religion handelt, fallen reine Nation und reine Religion im Fundamentalismus zusammen. In universalistischen Religionen werden in der Regel die Urgemeinde des Religionsstifters oder vergleichbare Imaginationen eines Goldenen Zeitalters als heile Welt beschworen, die es zu restaurieren gelte. Diesem Ideal wird in der Regel alles das positiv zugeschrieben, was an der Moderne zu bemängeln ist.

Radikaler Patriarchalismus

Fundamentalismus stellt keine beliebige ideologische Position dar, sondern entsteht aus der Dynamik neuer Gruppenbildung im Kontext sozialer Restrukturierung. Die erste Generation des Fundamentalismus entstammt zumeist dem traditionalistischen Milieu von Händlern und Handwerkern. Im Laufe der geschichtlichen Entwicklung verschiebt sich der Schwerpunkt hin zur neuen Mittelschicht, wobei der Sitz oft moderne Massenuniversitäten sind. Hier sind es vor allem die „Grenzgänger", die zwischen traditionalistischem Elternhaus und moderner Bildung und Lebensführung hin- und hergerissen sind, sowie Neubekehrte: Kinder oftmals säkularer Eltern, die sich dem Fundamentalismus als einer Ideologie der Opposition gegen den säkularen Staat und das säkulare Elternhaus zuwenden. Was jedoch die verschiedenen Generationen gemein haben, ist ihr radikaler Patriarchalismus.

Obgleich die Lebensführung und Ideologie verschiedener fundamentalistischer Gruppen Variationen aufweisen, propagieren sie alle patriarchalische Autorität und Moral. Sie befürworten in der Regel einen Geschlechterdualismus, nach dem Männer und Frauen von Natur aus unterschiedlich seien, weil sie füreinander geschaffen sind. Die gottgegebene oder „natürliche" Sphäre der Frau sei die häusliche, die des Mannes die außerhäusliche. Die Frau habe die männliche Autorität zu respektieren. Vor allem aber müsse der weibliche Körper züchtig bedeckt sein, damit er nicht die männlichen Leidenschaften errege. Was züchtig bedeckt zu sein hat, variiert je nach kulturellem Kontext vom Haar über das Knie, die Arme, die Fesseln oder das Dekolleté. Der fundamentalistische Patriarchalismus geht über ein konservatives Beharren auf traditionalen Geschlechterbeziehungen hinaus. Patriarchalische Autorität und Moral sind zum zentralen Symbol im Konflikt zwischen Modernisten und Fundamentalisten avanciert, das den Unterschied zwischen Glauben und Unglauben signalisiert. Insofern hängt an der Rückkehr zur patriarchalischen Ordnung nicht nur die Überwindung der Krise der Gegenwart, sondern letztlich das Heil der Menschheit.

In ihrem Bemühen, die ideale Ordnung der Urgemeinde wiederherzustellen, erweisen sich Fundamentalisten als Reformatoren religiöser Praktiken. Gestützt auf eine bemerkenswerte Mobilisierung religiöser Laien bildet sich eine neue Klasse von Geistlichen heraus, welche die speziellen Beschwerden und Forderungen sozialer Gruppen artikulieren, die bisher weitgehend von der Teilnahme am öffentlichen Leben ausgeschlossen waren. Dies schafft neue religiöse Herrschaftsstrukturen und demokratisiert die politische Willensbildung.

Jedoch geht es beim Fundamentalismus oft weit stärker um die Formung der Person durch fromme Lebensführung und die Kultivierung eines spezifischen religiösen Ethos. Der Fundamentalismus motiviert religiöse Laien dazu, heilige Texte selbst zu lesen und zu interpretieren sowie ihr eigenes Leben bewusst nach ethischen und rituellen Vorschriften auszurichten. Fundamentalistische Religiosität dient hier weniger außerreligiösen Zielen, wie wirtschaftlicher Besserstellung oder politischer Macht, sondern definiert selbst Ziele, die aufgrund des Glaubens an ihren Eigenwert verfolgt werden, wie etwa moralisch gut, fromm und tugendhaft zu leben. So handelt es sich bei vielen Fundamentalisten auch nicht um politische Aktivisten, sondern oft um Menschen, die sich in Subkulturen oder Kommunen zurückziehen.

Zukunft des Fundamentalismus

Welche langzeitigen Auswirkungen besitzt die fundamentalistische Rückkehr der Religionen? Wird die Welt in Zukunft durch Konflikte zwischen Zivilisationen gekennzeichnet sein, als deren Repräsentanten die jeweiligen Fundamentalisten auftreten? Ich halte dies für unwahrscheinlich. Obgleich religiöse Traditionen die Grundlage für soziale Identität und Solidarität bilden können, sind in der gegenwärtigen Welt alle Traditionen in eine Vielzahl kultureller Milieus fragmentiert, die unterschiedliche Haltungen gegenüber wesentlichen Zügen des modernen Lebens vertreten. Vergleichbare Milieus in verschiedenen Traditionen ähneln einander oft mehr als ihren Gegenmilieus innerhalb derselben Religion. Aus dieser Sicht wird unsere Gegenwart durch die wechselseitige soziale und ideologische Konstitution von Säkularismus und Fundamentalismus sowie zahllosen Zwischenpositionen geprägt. Insofern repräsentiert der Fundamentalismus weder den zeitlosen religiösen Kern von Zivilisationen noch eine temporäre Verirrung vom prädestinierten Pfad zum Säkularismus, sondern ein sich stets erneuerndes soziales Phänomen innerhalb der modernen Welt.

Der Autor ist Religionssoziologe an der University of Chicago. Weiterführende Lektüre: Klaus Kienzler: Der religiöse Fundamentalismus. Christentum, Judentum, Islam. München: Beck’sche Reihe, 2002. Martin Riesebrodt: Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der „Kampf der Kulturen". München: Beck’sche Reihe, 2. Aufl., 2001

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