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Gesundheit: Schlafen als Krankheit

Von Müdigkeit überwältigt: Wie man Narkolepsie behandelt und welche Ursachen sie hat

Wer erfährt, dass er unter einer unheilbaren Krankheit leidet, ist meist am Boden zerstört. In manchen Fällen kann eine solche Diagnose aber auch wie eine Befreiung wirken. „Es war unglaublich erleichternd, als ich erfuhr, dass das alles nicht meine Schuld ist“, sagt Gerhard Steiner rückblickend. Der pensionierte Jurist leidet schon seit der Pubertät an Narkolepsie. Mehrmals am Tag befällt ihn das unbezwingbare Bedürfnis einzuschlafen.

Jahrelang hatten Frau und Kinder ihm vorgeworfen: „Mit dir kann man ja nirgendwo hingehen.“ Im Theater, im Kino oder auf dem Beifahrersitz, wo auch Gesunde für ein Nickerchen anfällig sind, fallen Steiner und seinen Leidensgenossen regelmäßig die Augen zu. Doch das kann ihnen auch während eines schönen Essens und trotz angenehmer Begleitung im Restaurant passieren.

Oder im Job, wo man meist noch weniger mit Verständnis rechnen kann. Christine Lichtenberg, heute krankheitsbedingt erwerbsunfähig und Vorsitzende der Deutschen Narkolepsie Gesellschaft, einer Selbsthilfe-Einrichtung, kann ein Lied davon singen. Um im Büro nicht unangenehm aufzufallen, hatte sie sich regelmäßig zum Schlafen in die Toilette zurückgezogen. „Nach einiger Zeit fand ich ein Zettelchen an der Toilettentür: „Verschlafen Sie den Feierabend nicht!“

Was die Kollegen nicht wussten, versucht sie jetzt der Öffentlichkeit zu vermitteln: Zusammenreißen hilft nicht, wenn die Schlafattacke ihr Opfer erfasst. Allenfalls kann man versuchen, seinen Tagesrhythmus auf das Unvermeidliche einzustellen. Aber wer kann sich das schon leisten, im Großraumbüro? Die Einschlafattacken können mehrmals am Tag auftreten, sie können Sekunden bis Stunden dauern.

Tagesmüdigkeit kann verschiedene Ursachen haben (siehe Infokasten). „Die Ärzte haben meist Schwierigkeiten, die Diagnose Neurolepsie zu stellen“, sagt Geert Mayer, Chefarzt der Neurologischen Klinik Hephata im oberhessischen Schwalmstadt-Treysa und Professor an der Uni Marburg. In vielen Fällen entwickeln Neurolepsie-Patienten jedoch weitere Symptome, die ihren Alltag zusätzlich erschweren, dem Arzt aber mehr Klarheit verschaffen.

Da ist zunächst der plötzliche Verlust der Muskelspannung in aufregenden Situationen. Die Betroffenen werden von starken Gefühlen förmlich übermannt. „Am Anfang war es nur ein Zucken im Gesicht, wenn ein Witz erzählt wurde“, erinnert sich Christine Lichtenberg. Das muss in der Umgebung keiner bemerken.

Viele bekommen bei Freude, Überraschung oder Ärger aber auch weiche Knie oder sacken bei vollem Bewusstsein völlig in sich zusammen. Wenn sie stürzen, wird das oft als epileptischer Anfall fehlgedeutet. Das kann ein seltenes Ereignis sein, genauso gut aber auch mehrmals am Tag passieren. Neun von zehn Narkolepsiepatienten haben ab und an unter solchen Katalepsien zu leiden. Ein weiteres Symptom sind Halluzinationen beim Übergang vom Wachzustand in den Schlaf und umgekehrt. Sie gelten als seltener, das kann aber auch daher kommen, dass die Betroffenen sie verschweigen. „Man spricht nicht so gern darüber, weil man Angst hat, für verrückt gehalten zu werden“, sagt der Narkolepsie-Experte Mayer.

Das vierte typische Merkmal der Erkrankung sind Lähmungen, die ebenfalls beim Übergang vom Schlaf- zum Wachzustand und umgekehrt auftreten.

Seit der französische Psychiater Jean Gélineau 1880 der Narkolepsie ihren Namen gab (von griechisch: In Erstarrung fallen), ist man nicht nur bei den Tests, sondern auch bei der Suche nach den Ursachen der Krankheit entscheidend weitergekommen. Heute vermutet man, dass ein Autoimmunprozess zu Grunde liegt. So haben 90 Prozent der Betroffenen besondere Charakteristika bei einem körpereigenen System von Gewebsantigenen, dem Humanen Leukozyten Antigen (HLA).

Zudem wurde entdeckt, dass den Betroffenen der Hirnbotenstoff Hypocretin mangelt. Beim Schlaf-Wach-Rhythmus spielt er eine wichtige Rolle, aber auch für Motorik, autonomes Nervensystem und Essverhalten. Bei Dobermann-Hunden, die an einer narkolepsieähnlichen erblichen Störung leiden, wurden Veränderungen in dem Gen gefunden, das die Bauanleitung für die Hypocretin-Andockstellen im Gehirn enthält.

Etwa 2000 Narkolepsie-Patienten sind in spezialisierten Schlafambulanzen in Behandlung. Bei der Deutschen Narkolepsie Gesellschaft schätzt man allerdings, dass 80 Prozent der Betroffenen mit ihrem Leiden ohne professionelle Hilfe leben. Ein Medikament, das das Übel bei der Wurzel packt und alle Symptome auf einen Schlag behandelt, ist noch Zukunftsmusik. Heute muss man medikamentös mindestens zweigleisig fahren. Stimulanzien werden gezielt gegen die Tagesschläfrigkeit eingesetzt, darunter Präparate, die unter das Betäubungsmittelgesetz fallen. Ein Problem ist, dass sie bei manchen Patienten mit der Zeit ihre Wirksamkeit verlieren.

Antidepressiva wirken gegen die plötzliche Muskelerschlaffung. Sie werden jedoch auch oft gebraucht, weil die von Narkolepsie Betroffenen, die sich aus der Arbeitswelt zurückziehen und soziale Kontakte verlieren, Depressionen entwickeln. Genauso wichtig wie die Medikamente sind aber geplante Schlafphasen am Tag, ein regelmäßiger Lebensrhythmus – und nicht zuletzt das offene Ansprechen des Problems. Wer Glück hat, darf danach womöglich am Arbeitsplatz das unausweichliche Nickerchen halten und das Arbeitspensum später erledigen.

Infos unter:

www.dng-ev.org; www.dgsm.de

Adelheid Müller-Lissner

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