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Gesundheit: Schon in den 20er Jahren tat der Philosoph, was Sloterdijk heute versucht: eine Verbindung zwischen der Biologie und der Geisteswissenschaft herzustellen

Besser spät als nie: In Freiburg wurde nun die Helmuth-Plessner-Gesellschaft gegründet. Ob auf Philosophentagen oder in elitären Zirkeln: Seit Peter Sloterdijk mit lustvollem Tabubruch zur Selbstinszenierung angesetzt hat, ringt die deutsche Philosophie um Fassung.

Besser spät als nie: In Freiburg wurde nun die Helmuth-Plessner-Gesellschaft gegründet. Ob auf Philosophentagen oder in elitären Zirkeln: Seit Peter Sloterdijk mit lustvollem Tabubruch zur Selbstinszenierung angesetzt hat, ringt die deutsche Philosophie um Fassung. Plessner stellte sich in den zwanziger Jahren gerade jener Aufgabe, die von Sloterdijk heute mit dem Effekt des Skandals angerissen wird: Der Verschränkung von politischer Philosophie mit einer Philosophie der Biologie. Elitär im Ton versuchte Plessner, den (west-)europäischen Humanismus-Begriff zu revidieren.

Am Anfang stand Plessners während des Ersten Weltkrieges vollzogene Beobachtung, dass ein auf Humanismus und Menschenrechte aufbauender Staat aus der Perspektive seines wirtschaftlich und technisch zeitweilig unterlegenen Gegners betrachtet keineswegs human erscheinen muss. Die Auswirkungen moderner Technik, ob wirtschaftlich oder kriegerisch eingesetzt, ließen den Rückschluss auf das die Technik ursprünglich tragende humanistische Ethos nicht mehr zu. Plessners Folgerung: Eine souveräne deutsche Republik - gemeint war damals Weimar - müsse eine neues Humanismus-Verständnis entwerfen, um die verbliebenen deutschen Potenziale (Wirtschaft und Technik) erfolgreich einzusetzen und sie auf humane Weise als Machtinstrumente zu gebrauchen.

Mit seinem Buch "Die Stufen des Organischen und der Mensch" begründet Plessner 1928 in kritisch-phänomenologischer Analyse des Lebendigen (Pflanze, Tier, Mensch) seine Philosophie der Biologie als philosophische Anthropologie. Drei Jahre darauf erprobt Plessner seinen Begriff des Menschen als Begriff des Politischen - in Auseinandersetzung mit Carl Schmitt und vor allem mit Martin Heidegger.

Der Mensch, so deutet Plessner, ist ein sich selbst unaufhebbares Zentrum seines Seins. Als Sklave seiner Gene bleibt er bis zum Tod in der Natur gefangen. Erst wenn er sich der Zufälligkeit der eigenen Existenz bewusst wird, sein Zentrum exzentrisch betrachtet, gibt er sein eigenes Dasein zur Selbstbestimmung frei. Diese Exzentrizität, die Erkenntnis der Einbindung des Menschen in eine zufällige Natur- und Ereignisgeschichte, ist eine europäische Einsicht und zugleich eine Chance.

Plessners philosophische Anthropologie wurde von Martin Heidegger, dem neuen Stern am Philosophenhimmel, als zu beliebig abgetan, die eigene als die eigentliche positioniert. Dass Plessner aus dem philosophischen Elitendiskurs mit Martin Heidegger und Carl Schmitt vorzeitig ausschied, hatte dennoch andere Gründe. Heidegger und Schmitt wagten den "Sprung" in die politische Entscheidung und gaben sich als nationalsozialistische Geistesführer.

Für Plessner bedeutete dies das plötzliche Ende philosophisch-politischer Elitenträume. Als "Halbjude" ins Exil getrieben, kehrte er in jene Nachkriegsepoche zurück, die von Sloterdijk heute ausgerechnet als dunkelste der deutschen Philosophie bezeichnet wird. Der entthronte Heidegger gestattete sich erst jetzt, nach 1945, jene Fragen ernsthaft zu erwägen, die ihm Plessner vor 1933 und auch danach noch in der Rolle des von Heidegger "zu Tode geschwiegenen" Kollegen vorgelegt hatte: Humanität zu denken, ohne sich einen Begriff von ihr zu machen.

Plessner war aus der Erfahrung drohender Vernichtung in den fünfziger und sechziger Jahren dafür sensibilisiert, "wie weit sich der Mensch als Mensch in Frage stellen darf". Diese Frage sah er als weniger durch die Massenvernichtungswaffen gegeben als durch die Biologie. "Mit der wissenschaftlichen Genetik wird es der schöpferische Eingriff in das Leben selbst sein, der die Politik zur Entscheidung zwingt."

Aus Plessners Überlegungen lassen sich so einige stichhaltige Bedenken gewinnen. Diese lockenden, fremden Horizonte zu beschreiten, könnte ein Antrieb der Helmuth-Plessner-Gesellschaft sein, die sich erst jetzt, Jahre nach dem Verstummen seiner philosophischen Stimme, in Freiburg gegründet hat. An der Spitze stehen der Freiburger Wolfgang Eßbach, der Plessner-Schüler Lolle Nauta aus Groningen und Joachim Fischer aus Göttingen. Ein jeder von ihnen hat auf seine Weise das Grenzverhältnis von Philosophie und Soziologie fruchtbar gemacht.

In der Plessner-Gesellschaft möchte man nun die noch nicht veröffentlichten und schwer zugänglichen Teile seines Werkes ebenso wie Plessners Hauptschrift "Die Stufen des Organischen und der Mensch" breiteren Kreisen bekannt machen. Und: Die Plessner-Gesellschaft will an den Grenzlinien von Bio-, Kultur- und Sozialanthropologie Plessners Anstösse weiterdenken. Ein erster Kongress soll im Herbst 2000 in der Heidegger-Stadt Freiburg veranstaltet werden. Da mag manchem eines der Bonmots des Exzentrikers Plessner einfallen: "Man kommt immer noch früh genug zu spät."Helmuth-Plessner-Gesellschaft, Wolfgang Eßbach, Institut für Soziologie, Rempartstraße 15, 79 085 Freiburg.

Kersten Schüssler

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