zum Hauptinhalt

Gesundheit: Schule: Schüler allein zu Haus

Die Schulen in allen Industrieländern der Erde bieten Unterricht von 8 bis 15 Uhr an und außerdem neben dem Unterricht auch soziale Aktivitäten für ihre Schülerinnen und Schüler. Nur in Deutschland nicht, nachdem die alte DDR in dieser Hinsicht auf "Westniveau" gebracht worden ist.

Die Schulen in allen Industrieländern der Erde bieten Unterricht von 8 bis 15 Uhr an und außerdem neben dem Unterricht auch soziale Aktivitäten für ihre Schülerinnen und Schüler. Nur in Deutschland nicht, nachdem die alte DDR in dieser Hinsicht auf "Westniveau" gebracht worden ist. Und das, obwohl fast 20 Prozent der Eltern allein erziehen und 50 Prozent der Mütter berufstätig sind.

Das Kindergarten- und Schulangebot hat sich seit den 50er Jahren nicht grundsätzlich verändert: Es ist ein Vormittagsangebot. Die Eltern können sich glücklich schätzen, wenn ihr Nachwuchs von 8 bis 12 Uhr aus dem Haus ist. Verlassen können sie sich noch nicht einmal auf diese Zeitspanne, denn die Krankheit einer Erzieherin oder einer Grundschullehrerin kann den Zeitplan der Kinder völlig durcheinander bringen.

Mit unserer so genannten "Halbtagsschule" stehen wir in der Welt also inzwischen einmalig da. Nirgendwo sonst gibt es ein zeitlich derart begrenztes Angebot schulischer Bildung wie bei uns. Nirgendwo sonst werden die Veränderungen des Familien- und Berufslebens von der Politik so eklatant ignoriert. Immer weniger Eltern haben die Zeit, sich von 12 Uhr an um ihre heimkehrenden Kinder zu kümmern.

Aus seriösen Untersuchungen lässt sich ablesen, dass insgesamt 40 Prozent der Eltern eine Betreuung der Schulkinder auch am Nachmittag wünschen; viele von ihnen sind sogar auf diese Betreuung angewiesen. Das tatsächliche Angebot von Ganztagsplätzen in Kindergärten und Grundschulen liegt aber bundesweit nur bei rund fünf Prozent.

Eltern in Schwierigkeiten

Familienpolitisch ist das ein Skandal. Immer mehr Eltern geraten durch den Modernitätsrückstand der öffentlichen Kinderbetreuung in Schwierigkeiten. Vor allem alleinerziehende Mütter und Väter wissen ein Lied davon zu singen, wie schwer es ist, Unterstützung bei der Kinderbetreuung zu finden. Viele andere Eltern, die ein Ganztagsangebot wünschen, sind gar nicht darauf angewiesen, sondern halten es für eine erzieherische Bereicherung für ihr Einzel-Kind. Die Politik aber hat es in Deutschland auf wundersame Weise jahrzehntelang verstanden, die Wünsche der Eltern zu übergehen. Es gibt wohl kaum einen anderen Politikbereich, in dem so massiv gegen deutlich erkennbare Wünsche und Bedürfnisse breiter Schichten der Bevölkerung verstoßen wird.

Eltern, die für ihre Kinder keinen Platz in einer Ganztagsschule bekommen, darauf aber angewiesen sind, müssen heute teils abenteuerliche Lösungen finden. Da Großeltern nur noch selten bereit stehen, müssen Freunde, Verwandte, ältere Nachbarkinder oder teure Betreuungsdienste organisiert werden. Der Boom bei den Nachhilfeinstituten ist zu einem großen Teil auf diese dramatische Situation zurückzuführen. Wer das Geld dafür hat, kann für seine Kinder die Privatschule am Nachmittag aus der eigenen Tasche finanzieren und hat obendrein den Vorteil, dass die Kinder aufgepäppelt werden. Kein Wunder, dass heute schon über 20 Prozent aller Kinder regelmäßig privaten Zusatzunterricht am Nachmittag bekommen.

Wer sich diese Betreuung am Nachmittag nicht leisten kann, muss auf die Selbstorganisation der Kinder vertrauen. Tausende Neun- und Zehnjährige kommen mittags allein nach Hause, bereiten sich einsam ihr Mittagessen und vertreiben sich den Nachmittag bis zum Eintreffen der Eltern auf eigene Faust. Die Fernseh- und Rundfunkgesellschaften wissen das. Sie bieten ein passend zugeschnittenes Programm genau zwischen 12 und 15 Uhr an. Die Politikerinnen und Politiker aber wachen erst allmählich aus ihrem familienpolitischen Mittagsschlaf auf.

In einigen Bundesländern werden die moralisierenden Vorhaltungen gegenüber Eltern leiser, die nicht um 12 Uhr am Herd stehen können, um für das Mittagessen der Kleinen zu sorgen. Konzepte wie die "verlässliche Halbtagsschule" oder neuerdings die Ganztagsschule sind der kühnste Wurf, den die Bildungspolitik bisher geschafft hat. Rheinland-Pfalz hat die Initiative ergriffen und beginnt in diesem Schuljahr mit der Einführung von Ganztagsschulen im ganzen Land. Auch in Hamburg, Schleswig-Holstein, in Nordrhein-Westfalen, Hessen und Rheinland-Pfalz und auch in den ostdeutschen Ländern wie Sachsen-Anhalt gibt es Initiativen dieser Art, meist unter tatkräftiger Beteiligung von Eltern, die es satt haben, langjährig vertröstet zu werden. Schulvereine wurden gegründet, die dafür sorgten, dass wenigstens im Zeitraum von 8 bis 12 Uhr oder von 8 bis 13 Uhr die Kinder in der Schule sein können. In den "freien" Unterrichtsstunden werden Mittagspausen, Spiel- und Bastelkurse, Theater und Kunst, Sport- und Entspannungsaktivitäten geboten.

Ganztags ohne Zusatzkosten

Aber das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Nach wie vor fehlen Angebote in die Breite, die über die Zeitschwelle 13 Uhr hinaus ein gutes pädagogisches Angebot in die Grundschulen und vor allem auch in die weiterführenden Schulen bringen. Die Bildungspolitikerinnen und Bildungspolitiker verweisen gerne auf die leeren öffentlichen Kassen - weil Ganztagsschulen zu teuer seien.

Doch dieses Argument sticht nicht. Ein schulisches Ganztagsangebot - wohlgemerkt ein Wahlangebot, kein Pflichtprogramm - kann ohne zusätzliche Kosten organisiert werden. Es geht ja nicht darum, neue Lehrerinnen und Lehrer einzustellen, um das heutige Vormittagsangebot an Schulen auf den Nachmittag auszudehnen. Es macht pädagogisch überhaupt gar keinen Sinn, den Ganztagsbetrieb unserer Schulen als einen in die Länge gezogenen Halbtagsbetrieb nach bekanntem Muster aufzuziehen. Das ist nicht das, was Kinder brauchen, und deswegen steht dieses teure Modell auch überhaupt nicht zur Diskussion.

Was Kinder benötigen, ist eine Ergänzung und nicht Ausweitung des heutigen fachorientierten Unterrichtsangebotes. Die Schulen müssen dazu in die Lage versetzt werden, Arbeitsgruppen und Freizeitaktivitäten in der Mittagspause und am frühen Nachmittag, in Zusammenarbeit mit Elterninitiativen, Vereinen, Selbsthilfegruppen, Jugendämtern, Kirchen und Wohlfahrtsverbänden kostenneutral zu organisieren.

Nehmen wir ein Beispiel: Durch die Kooperation von Schulen mit Verbänden der Jugendarbeit und Einrichtungen der Jugendhilfe kann ein reichhaltiges und abwechslungsvolles Angebot am Nachmittag aufgebaut werden. Die Freizeit- und Kommunikationsbedürfnisse der Kinder sollten dabei im Vordergrund stehen. Die Jugendarbeit der Sportvereine, der Jugendclubs und der Jugendämter ist seit jeher auf diese Bedürfnisse eingerichtet. Erhält sie im schulischen Raum die nötigen Freiheiten, dann kann sie genau die Impulse geben, die Kinder nach dem Schulvormittag gut gebrauchen können.

Mehr Planstellen für Lehrerinnen und Lehrer sind hierfür nicht nötig. Die ständige Entschuldigung der Bildungspolitiker, wegen Mangels an Planstellen nicht tätig werden zu können, läuft ins Leere. Vielmehr müssen Schul- und Jugendministerien lernen, zusammenzuarbeiten, ebenso wie die vielen haupt- und nebenamtlich tätigen Fachleute in der Sport-, Jugend- und Vereinsarbeit und der Jugendhilfe lernen müssen, mit Lehrerinnen und Lehrern zusammen tätig zu werden.

Neue Organisationsformen für schulische Lern- und Sozialarbeit benötigen wir auch aus Haushaltsgründen. Die Schülerzahlen im Westen werden in den nächsten Jahren noch wachsen, sehr viel mehr Geld für Lehrerstellen wird aber nicht aufzubringen sein. Deshalb ist Phantasie für neue Arbeitsformen gefragt, bei denen Lehrer etwa als Moderatoren für freie Arbeit der Schüler im Wochenplan oder auch für Schülertutoren fungieren: Ältere Schülerinnen und Schüler unterrichten in kleinen Arbeitsgruppen jüngere. Solche und ähnliche Modelle müssen jetzt erprobt werden.

Immer mehr Schule des herkömmlichen Musters, das bei uns seit Jahrzehnten überliefert ist, ist nicht bezahlbar. Damit die Entwicklung nicht unkontrolliert läuft, muss die Selbstständigkeit der Einzelschule hergestellt werden. Jede Schule muss in der Lage sein, wie ein kleines pädagogisches Dienstleistungsunternehmen zu handeln, um ihr eigenes schulisches Programm zu entwickeln, über die zeitlichen und inhaltlichen Angebote zu entscheiden, und schließlich auch über die Partner, die für die Erweiterung im Mittags- und Nachmittagsprogramm herangezogen werden.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false