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Gesundheit: Schwedens schwache Schüler

Trotz der Gesamtschule haben Migranten auch im Norden schlechte Chancen

Schweden – im Schulwesen ein Musterland. So sehen es in Deutschland viele, die an deutschen Schulen Gewalt, soziale Verwahrlosung oder auch nur Mittelmaß beklagen. Doch Schwedens sozialdemokratisch geprägtes Schulsystem steckt in der Krise. Aus gutem Grund ziehen die Konservativen, die vielleicht die nächste Regierung stellen, jetzt mit dem Thema in den Wahlkampf.

Dabei spielen auch Misserfolge der schwedischen Schule bei der Ausbildung sozial schwacher Schichten, allen voran der Migranten, eine Rolle. Besonders in den Großstädten mit einem hohen Ausländeranteil ist Gewalt in der Schule nichts Unbekanntes mehr. In Stockholm oder Malmö gibt es Vororte, in denen jeder zweite Bewohner aus dem Ausland zugewandert ist. Und die Segregation nimmt zu. „Der Staat hat einige ehrgeizige, jedoch ziemlich erfolglose Versuche unternommen, die Verelendung der Vorstädte aufzuhalten“, urteilte unlängst Radio Schweden. Zehn Prozent der Jugendlichen im Alter von 15 bis 17 Jahren sind nach Angaben der Sozialministerin schon einmal gewalttätig gegen eine Person geworden. An den Schulen nehmen Mobbing und Diskriminierung offensichtlich zu, jedenfalls werden sie häufiger angezeigt. Nicht immer geht man entschlossen gegen Täter vor, wie es jetzt in Skärholmen im Süden Stockholms geschieht: Schulleiter entfernen kriminelle Schüler und überweisen sie in Sonderklassen.

Die Grünen, Koalitionspartner der regierenden Sozialdemokraten, gehen ebenso wie die bürgerliche Opposition in der Bildungspolitik auf Distanz: „Wir sind tief beunruhigt über die Entwicklung in der schwedischen Schule.“ 40 Prozent der männlichen 15-Jährigen könnten nicht auf einem akzeptablen Niveau lesen. „Immer mehr junge Schweden landen in Sondergruppen für lernschwache Schüler, die schwedische Schule vermittelt den Jugendlichen nicht mehr die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten“, beklagen die Grünen.

Kürzlich fasste die nationale Bildungsagentur die Ergebnisse der aktuellen Schulinspektionen im Lande so zusammen: „Unzureichender Einsatz für Schülerinnen und Schüler, die den größten Bedarf an Hilfe haben.“ Zwar dominiert der Gleichheitsgedanke seit Jahrzehnten das Bildungswesen, doch in der Nutzung von Bildung vergrößern sich die sozialen Unterschiede. Die Ergebnisse der letzten landesweiten Untersuchung der Gesamtschule waren ernüchternd. In den letzten Jahren erreichte ein Viertel der Jugendlichen keine ausreichenden Leistungen in einem oder mehreren Fächern.

Die Abschaffung der Gesamtschule wird in Schweden deshalb nicht diskutiert, wohl aber die Frage, ob es nicht jahrelang zu locker in den Klassenzimmern zuging, so dass zu vielen Schülern keine soliden Kenntnisse vermittelt wurden. Hausaufgaben sind unbedeutend, gegen den Willen der meisten Neuntklässler gibt es erst in den beiden letzten Jahren Zeugnisse. Jüngste internationale und nationale Studien bescheinigen schwedischen Jugendlichen nur noch Mittelmaß, vor allem in Mathematik und den Naturwissenschaften, aber auch im Lesen.

Die Schulbehörde ist beunruhigt und betreibt vorsichtige Ursachenforschung: Die Kurspläne und Beurteilungskriterien seien wohl nicht eindeutig, die Lehrer verunsichert, in den höheren Klassen der Gesamtschule hätten nur 60 bis 70 Prozent der Lehrkräfte eine fachliche und pädagogische Ausbildung – ein Vorwurf an die für die Einstellung zuständigen Kommunen.

Die große Freiheit der schwedischen Schulen in Methodik und Organisation hat die Ziele undeutlich werden lassen. Um vor allem schwächeren Schülern auf dem Weg durch die Schule zu helfen, werden seit dem 1. Januar individuelle Entwicklungspläne im Gespräch zwischen Lehrer, Eltern und Schüler erstellt, die den Lernstand und die konkreten Ziele für jeden Einzelnen festhalten.

In der Kritik steht auch die Gymnasialschule (gymnasieskola), die sich der neunjährigen Gesamtschule (grundskola) anschließt. Diese ist nicht mit dem deutschen Gymnasium zu vergleichen. Das schwedische Gymnasium wird von mehr als 90 Prozent der Jugendlichen besucht, hier absolvieren viele einen großen Teil der Berufsausbildung. Wenn am Ende der Klasse 9 der Schulwechsel ansteht und die Gymnasialschulen in Anzeigen und Farbbroschüren ihre Vorzüge anpreisen, können die schwedischen Schülerinnen und Schüler aus einem Angebot von 16 Ausbildungsprogrammen wählen, von denen zwei vor allem auf ein Studium und die anderen in erster Linie auf einen Beruf vorbereiten. Grundsätzlich ermöglichen die berufsvorbereitenden Ausbildungen jedoch auch den Hochschulzugang – denn Schweden hält an seinem ehrgeizigen Ziel fest, grundsätzlich allen Jugendlichen den Besuch einer Hochschule zu ermöglichen.

Doch diese gut gemeinte Umsetzung des Gleichheitsgedankens trifft besonders die leistungsschwächeren Schüler. Früher zweijährige Ausbildungsprogramme wurden zu dreijährigen aufgestockt, der Theorieanteil des Unterrichts erhöht. So ist es kein Wunder, dass lernunwillige Jugendliche schließlich ohne vollständige Zeugnisse der Gesamtschule im so genannten „individuellen Programm“ landen, unter ihnen viele Schwänzer, Frustrierte und Gewalttätige.

Viele Lehrer hängen ihren schwierigen Job an den Nagel. Anders als in Finnland genießen Pädagogen in Schweden nur geringes Ansehen. Die Bezahlung ist erheblich niedriger als in Deutschland. Vor allem fühlen sich viele der Jüngeren nicht ausreichend auf ihren Beruf vorbereitet. Ausbildungsminister Pagrotzky fordert wie die Opposition eine rasche Reform der Lehrerausbildung und beklagt die zu laschen Anforderungen an die Studenten.

Denn selbst Schüler, die nicht zu den extremen Problemfällen gehören, schwächeln am Gymnasium. Als Berliner Schüler das Nacka-Gymnasium nahe Stockholm besuchten, staunten sie: „Es gab unglaublich viele Computer, ein McDonald-artiges Essen, noch eine weitere Cafeteria für den Aufenthalt in den Freistunden, einen Friseursalon, eine Designerabteilung, mehrere Sporthallen, eine vor kurzem renovierte Schwimmhalle mit Sauna, eine schuleigene Bibliothek und noch mehr.“ Die Berliner Gymnasiasten wunderten sich jedoch auch über die fehlende Disziplin oder die geringen Lernleistungen. Von allen schwedischen Jugendlichen, die im Herbst 2000 die Gymnasialschule begannen, erreichten drei Jahre später 44 Prozent das Ausbildungsziel nicht. Deshalb verlangen die bürgerlichen Parteien jetzt eine neue Gymnasialschule, in der künftige Akademiker die nötigen Kompetenzen erwerben, und die theoretisch weniger Begabten gezielt auf einen Beruf vorbereitet werden.

Der bürgerliche Block kündigt für den Fall eines Wahlsieges im Herbst eine große Reform des Bildungswesens an – für mehr Disziplin und bessere Lernerfolge.

Der Autor ist Gymnasiallehrer in Herne. Zwischen 1994 und 2002 unterrichtete er an der Deutschen Schule Stockholm, davon vier Jahre als stellvertretender Schulleiter dieser bilingualen Begegnungsschule.

Gerhard Austrup

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