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Gesundheit: Selbsthilfe, nicht Kontrolle

Die liberale deutsche Aids-Politik hat sich bewährt, sagen Sozialwissenschaftler

Wer erinnert sich zum alljährlichen, rituellen Welt-Aids-Tag am 1. Dezember noch an die Auseinandersetzungen über repressive oder liberale Gesellschaftspolitik am Beispiel der damals neuen Infektionskrankheit, fest zu machen an den Protagonisten Rita Süssmuth und Peter Gauweiler? Wer an den Alarm, die von Homosexuellen angeblich selbst verschuldete Ansteckung bringe millionenfachen Tod übers brave Land?

Inzwischen hat Aids den erschreckend-faszinierenden Ausnahmezustand hinter sich gelassen, dank medizinischer Fortschritte, vor allem aber, weil es sich um eine sozial- und präventionspolitische Erfolgsgeschichte handelt, die weit über die übertragbare Immunschwäche hinausgeht. „Die Normalisierung von Aids“ birgt für die Herausgeber des gleichnamigen Buches, Rolf Rosenbrock vom Wissenschaftszentrum Berlin und Doris Schaeffer (Universität Bielefeld), gleichermaßen Chancen und Risiken.

In Deutschland und im Prinzip in allen reichen westlichen Ländern ist aus einer damals drohenden Katastrophe für die Zivilisation und die Aufrechterhaltung bürgerlicher Freiheiten ein Problem geworden, das Anlass für einen erheblichen Modernisierungsschub war, machen die beiden Sozialwissenschaftler deutlich.

Vielleicht noch nie zuvor hat eine einzige Krankheit einen derart umfassenden Erkenntnisgewinn in Virologie, Infektiologie, Pharmakologie, Impfstoffentwicklung und über biologische Grundlagen von Krankheiten insgesamt gezeitigt, ebenso wie über Sexualität, Drogengebrauch und Verhalten von Jugendlichen. Wichtig auch die gesellschaftspolitischen Anstöße, die „Ausnahme vom normalen, schlechten Verlauf der Gesundheitspolitik“.

Nach teils heftigen Kämpfen entstand ein neuartiges Modell der Primärprävention, das Schuldzuweisungen, Kontrollen und moralisierende Verhaltensvorschriften ersetzte durch Akzeptanz bisher ausgegrenzter Gruppen und ihrer Sexualität, Einbeziehung der Selbsthilfebewegung, auf die Menschen zugeschnittene Aufklärungskampagnen.

Im Nachhinein ist es schwer zu beweisen, aber vieles spricht dafür: Ohne diese Strategien, vielleicht auch ohne die anfängliche Überschätzung der Risiken, hätte die „unheimliche Infektion“ auch in den reichen Ländern zu einer epidemischen Bedrohung geführt.

In der Krankenversorgung wurde exemplarisch die Orientierung an Bedürfnissen der Patienten durchgesetzt, ebenso der Grundsatz „ambulant vor stationär“ und die Durchlässigkeit beider Teilsysteme des Gesundheitswesens. Am Beispiel der damaligen Debatte um den HIV-Antikörpertest wurden Chancen, aber auch Gefahren einer übermäßigen „Medikalisierung“ von Krankheit und ihrer Bewältigung in nie da gewesener Weise öffentlich gemacht. Insgesamt hatte die Debatte über die Aids-Strategie einen tiefgreifenden Einfluss auf andere Politikfelder - die Drogenpolitik und die Toleranz gegenüber Minderheiten sind da nur Beispiele. Einige der durch die Aids-Auseinandersetzung der 80er Jahre hervorgerufenen gesundheits- und gesellschaftspolitischen Innovationen seien nicht rückgängig zu machen.

Rosenbrock hatte 1986 sein erstes Buch zum Thema mit visionärem Titel verfasst: „Aids kann schneller besiegt werden.“ Seine zentrale These 16 Jahre später: Die Erkenntnisse aus dem Aids-Normalisierungsprozess könnten auch künftig auf alle Felder der Gesundheitspolitik und viele Gebiete der Sozialpolitik übertragen werden.

Indessen berge die Normalisierung aber auch die Gefahr, dass die Erfolgsgeschichte in Zeiten der Gesundheits-Sparpolitik vergessen wird. So erklärt sich für ihn das scheinbare Paradox: „Der Umgang mit Aids ist weitgehend normalisiert, aber Aids ist nach wie vor alles andere als eine normale Krankheit. Dabei wäre nichts besser, als dass Aids eine normale Krankheit sein könnte, und nichts schlechter, als dass es eine normale Krankheit würde.“

Rosenbrock/Schaeffer (Hg.): Die Normalisierung von Aids, Verlag Rainer Bohn, edition sigma, Berlin 2002, 284 Seiten, 19Euro90.

Justin Westhoff

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