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Gesundheit: Skandalmittel wird Hoffnungsträger

Contergan-Wirkstoff hilft gegen Krebs – aber Krankenkassen zahlen oft nicht

Thalidomid, besser bekannt unter dem Markennamen Contergan, hat traurige Arzneigeschichte geschrieben. Anfang der 60er Jahre löste das Schlafmittel schwere Missbildungen bei Ungeborenen aus. Heute ist Thalidomid wieder im Gespräch. Denn der Wirkstoff hilft erwiesenermaßen gegen Knochenmarkskrebs – doch weigern sich die Krankenkassen, ihn zu bezahlen. So besteht die Gefahr, das Menschen das potenziell lebensrettende Mittel nicht bekommen. Die Geschichte scheint Kopf zu stehen.

Schon einige Jahre nach dem Skandal von 1961 zeigte sich, dass die vielseitige Substanz, deren Wirkmechanismus noch nicht restlos aufgeklärt ist, auch gegen bestimmte Symptome der Lepra wirkt, später wurde es gegen Folgen einer HIV-Infektion eingesetzt. Die Herstellerfirma Grünenthal stellte das Mittel mit der traurigen Geschichte für die neuen Anwendungen bis 2003 den behandelnden Ärzten kostenlos zur Verfügung.

Als 1999 eine Studie die Wirksamkeit gegen eine Form von Knochenmarkskrebs (Multiples Myelom) zeigte, tat sich ein weiteres Feld auf. Inzwischen sind 514 Publikationen dazu erschienen. „Thalidomid gilt, allein oder in Kombination, jetzt als Standardtherapie für das wiederkehrende oder gegen andere Therapien unempfindliche multiple Myelom“, resümierte das Fachblatt „ New England Journal of Medicine“ Ende letzten Jahres. Die deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie (DGHO) veröffentlichte im Februar detaillierte, mit Daten untermauerte Empfehlungen zur Anwendung.

Thalidomid, inzwischen von der Firma Pharmion vermarktet, hat bisher nur in Australien, Neuseeland, Israel und der Türkei eine Zulassung für die Behandlung des Myeloms. Ein Antrag bei der europäischen Zulassungsbehörde EMEA wurde von der Firma zurückgezogen. Im nächsten Jahr soll er mit besseren Unterlagen nochmals gestellt werden.

„Dieses Auseinanderklaffen von weit verbreiteter Anwendung und fehlender Zulassung ist – wie vieles bei dieser Substanz – einmalig", ist in dem aktuellen Konsensuspapier der DGHO zu lesen. Weil das Mittel heute in Deutschland und in der EU nicht zugelassen ist, gibt es Probleme mit der Bezahlung durch die gesetzlichen Krankenkassen, verschärft durch ein Urteil des Bundessozialgerichts über Importarzneimittel.

Vielen Myelom-Patienten ist mit hochdosierten Chemotherapien samt anschließender Stammzell-Transplantation nicht dauerhaft zu helfen, für andere ist eine solche Behandlung aufgrund ihrer Begleiterkrankungen zu aggressiv. Für sie ist ausgerechnet das Präparat mit der traurigen Vergangenheit zum Hoffnungsträger geworden. Beim multiplen Myelom werden im Knochenmark veränderte Plasmazellen gebildet. Sie verdrängen gesunde, für die Infektabwehr wichtige Plasmazellen.

Weil die normale Blutbildung ins Hintertreffen gerät, sind die Patienten sehr infektgefährdet. Und weil für den Abbau zuständige Zellen stimuliert werden, werden Knochen brüchig. Außerdem können die bösartigen Zellen auch feste Tumore (Plasmozytome) bilden. Thalidomid blockiert unter anderem mehrere Wachstumsfaktoren und macht es dadurch Tumoren schwer, neue Blutgefäße zu bilden. Die Tumoren können ab einer bestimmten Größe nicht weiterwachsen und sich im Körper ausbreiten.

Während private Kassen die Therapie mit Thalidomid bezahlen, müssen die Ärzte der gesetzlichen Kasse gegenüber in jedem Einzelfall detailliert begründen, warum ein „individueller Heilversuch“ mit Thalidomid nötig ist. „Das heißt aber, dass wir als Ärzte unheimlich viel Zeit damit verbringen, uns mit den Krankenkassen auseinander zu setzen“, sagt der Knochenmarkskrebs-Spezialist Wolf-Dieter Ludwig von der Robert-Rössle-Klinik der Charité. Zeit, die vor allem Niedergelassene sich kaum nehmen können. Ludwigs Kollege Gerhard Ehninger von der Uni Dresden, Vorsitzender der DGHO, spricht denn auch vom vorauseilenden Gehorsam niedergelassener Ärzte: „Viele Patienten beklagen sich, dass ihre Ärzte es ihnen aus Angst, von den Krankenkassen in den Regress genommen zu werden, nicht verordnen.“

In der Ambulanz der Robert-Rössle-Klinik, wo mehrere Myelom-Patienten mit Thalidomid behandelt werden, hat man eine „Interims-Lösung“ gefunden: Das Mittel, das sonst je nach Dosierung bis zu 100 Euro Tagestherapiekosten verursachen würde, wird in einer kliniknahen Apotheke über Eigenrezeptur hergestellt – für ein Sechstel des stattlichen Preises, den die Herstellerfirma unter anderem mit Kosten für die zu beantragende Zulassung begründet.

Etwa 20 Patienten, die beim Arzt mit der Weiterverordnung des Mittels oder bei ihrer Kasse mit der Erstattung Schwierigkeiten hatten, haben in den letzten Monaten bei der Deutschen Leukämie- und Lymphom-Hilfe (DLH) Rat gesucht. Ihnen soll nun geholfen werden, indem die Deutsche Knochenmarkspenderdatei die Kosten bis zu einer Höchstgrenze von 10000 Euro trägt und dann bei den Kassen einfordert. Die Knochenmarkspenderdatei hofft, dass am Ende die Krankenkassen doch für ihre Mitglieder einstehen.

Adelheid Müller-Lissner

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