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Wie gefesselt. Männliche Jugendliche sind besonders gefährdet, die reale Welt nach und nach gegen eine virtuelle einzutauschen. Aber sie können die Abhängigkeit auch schnell wieder verlieren. Wer dagegen als Erwachsener süchtig wird, bleibt es lange.

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Spielsucht: Raus aus dem Netz

Online ohne Ende: Das Internet kann süchtig machen. Schätzungen reichen von zwei bis zwölf Prozent der Bevölkerung. Und längst nicht nur Jugendliche sind betroffen.

Das hat wohl jeder schon einmal erlebt: Nach dem Abendessen geht man noch mal schnell online, vergisst die Zeit, surft sich fest, chattet stundenlang – und auf einmal ist es schon spät in der Nacht, der Schlaf ist kurz, die Arbeit am nächsten Tag dementsprechend hart. Dann ist erneut der rettende Abend erreicht – an dem man sich vornimmt, garantiert die Tastatur nicht mehr anzufassen. Nicht jeder kann diesen Zyklus so leicht durchbrechen. „Ein gewisser Prozentsatz von Menschen entwickelt eine Sucht nach dem Internet“, sagt Katja Salkow, Leiterin der Bipolar-Tagesklinik am Vivantes Humboldt-Klinikum, wo – neben anderen Formen von Abhängigkeit – auch Onlinesüchtige verhaltenstherapeutisch behandelt werden. Bei den Betroffenen verschiebt sich der Schlaf-wach-Rhythmus, sie vernachlässigen die Mahlzeiten, putzen die Wohnung nicht mehr, gehen alltäglichen Anforderungen aus dem Weg. Die Kommunikation mit Freunden verarmt, es kann zur Trennung vom Partner und Arbeitsplatzverlust kommen.

Wie viele Menschen genau betroffen sind, weiß man nicht, die Forschung steckt noch in den Anfängen. Schätzungen reichen von zwei bis zwölf Prozent der Bevölkerung. „Uns fehlen Studien zu dem Thema“, sagt Salkow. „Es gibt sie, aber sie sind weder qualitativ noch quantitativ ausreichend.“ Noch ist nicht einmal eindeutig geklärt, ob es sich bei Onlinesucht überhaupt um eine Krankheit handelt. Das macht auch die Diagnose schwierig. Die beiden wichtigsten Kataloge ICD (International Statistical Classification of Diseases) und DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) führen sie noch nicht auf. Ob es sich im streng wissenschaftlichen Sinn um eine Suchterkrankung handelt, um einen Zwang oder eine Störung der Impulskontrolle (worunter auch exzessives Essen, Shoppen oder Spielen fällt), ist ebenfalls noch umstritten. Auf jeden Fall kann Onlinesucht als Verhaltenssucht eingeordnet werden, ein relativ neuer Begriff, der erst vor einigen Jahren in Abgrenzung von der substanzbasierten Sucht, also der Abhängigkeit von Alkohol oder Drogen, entstanden ist.

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Onlinesucht begann schon relativ früh. Bereits 1996, als das Internetzeitalter gerade begann, schlug die amerikanische Psychologieprofessorin Kimberly Young eine Einteilung in sechs Kategorien vor: pathologische Suche nach Pornografie und Rollenspielen, pathologisches Chatten und Überprüfen neu eingegangener E-Mails sowie Glücksspielsucht und Kaufsucht. Diese Kategorisierung wird im Wesentlichen heute noch genutzt. Die Grenze zwischen zwar intensiver, aber normaler Internetnutzung und Abhängigkeit zieht man heute bei einer durchschnittlichen wöchentlichen Verweildauer im Netz, die 35 Stunden übersteigt, männliche Jugendliche kommen oft auf 50 Stunden und mehr.

Diese Gruppe ist besonders betroffen. Bis zu 20 Prozent von ihnen hätten laut Oliver Bilke, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Vivantes Klinikum im Friedrichshain, Probleme mit den neuen Medien, und zwar vor allem mit Rollenspielen wie „World of Warcraft“. „Da muss dann in immer kürzeren Abständen ein neues Update her, Reizbarkeit und Schlafstörung sind die Folge, virtuelles und reales Leben geraten aus der Balance“, sagt Bilke. Besonders gefährdet sind 16- und 17-Jährige, also gerade diejenigen, die sich in der wichtigen Endphase der Schulzeit befinden und sich aufs Studium oder Berufsleben vorbereiten. In der von Bilke geleiteten Jugendpsychiatrie werden rund 300 Jugendliche wegen einer Sucht – in der Regel Alkohol oder Cannabis – behandelt, 50 davon wegen Internetabhängigkeit. Allerdings kann eine Sucht in jungen Jahren relativ schnell von alleine vergehen. „Die Selbstheilung ist größer. Wer dagegen erst als Erwachsener abhängig wird, der bleibt es auch länger“, so Bilke.

Und es sind nicht nur Jugendliche, die das Problem haben. In der Bipolaren Tagesklinik am Humboldt-Klinikum werden auch Erwachsene behandelt, und auch die von der Caritas getragene Beratungsstelle „Lost in Space“ in Kreuzberg, die sich auf Onlinesucht spezialisiert hat, ist offen für alle Altersgruppen. „Wir schauen auf das Nutzungsverhalten des Betroffenen und erarbeiten Konzepte, wie er ohne Internet leben und seine alten Interessen wieder reaktivieren kann“, sagt Mitarbeiter Jannis Wlachojiannis. Allerdings ist auch hier die Hauptzielgruppe zwischen 16 und 25 Jahre alt.

In letzter Zeit hat das Thema größere Aufmerksamkeit gefunden. Der Gesamtverband für Suchtkrankenhilfe (GVS) der Diakonie unterhält 350 Beratungsstellen in Deutschland. Im Juni hat er in Spandau eine Mediensucht-Konferenz veranstaltet, an der 160 Fachkräfte aus der Jugendarbeit, dem Beratungs- und Schulsystem teilnahmen. „Viele Beratungsstellen, auch unsere eigenen, haben sich dem Phänomen Onlinesucht noch nicht genügend geöffnet“, bilanziert Knut Kiepe vom GVS, „was auch daran liegt, dass das Störungsbild in den psychiatrischen Klassifikationssystemen noch nicht anerkannt ist.“ Eine breitere Vernetzung sei nötig, um das Thema in die Gesellschaft zu tragen. Und natürlich fordert auch er mehr Studien, um die Datenbasis zu erhöhen und die Grundlagen für eine Behandlung zu erweitern. Wer die gar nicht erst in Anspruch nehmen möchte, sollte sich also zur abendlichen Entspannung vielleicht besser ein Glas Rotwein gönnen. Solange er nicht süchtig wird danach.

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