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Gesundheit: Stadtplan im Kopf

Dem Gedächtnis auf der Spur: Unser Arbeitsspeicher ist daumengroß – und bei Taxifahrern etwas dicker

Sie kann bis zu dreieinhalb Jahre dauern und genießt in der britischen Hauptstadt höchstes Ansehen: die Ausbildung zum Taxifahrer. Monatelang kurven die Kandidaten mit dem Moped durchs Londoner Straßenlabyrinth, tagaus, tagein – bis jede Ecke in ihr Gehirn eingebrannt ist.

Am Ende erwartet die Anwärter eine Armada von polizeilich überwachten Tests: Der Bewerber muss unter anderem die kürzeste Strecke zwischen zwei x-beliebigen Punkten der Stadt beschreiben können – auf Anhieb, versteht sich. Wer diese Prüfung besteht, der hat, so sagen die Londoner ehrfurchtsvoll, „the knowledge“, das Wissen.

Das hinterlässt Spuren, das muss Spuren hinterlassen, sagte sich Eleanor Maguire und machte die Probe aufs Exempel. Die Psychologin vom University College in London rekrutierte 16 Taxifahrer, legte sie in einen Kernspintomografen und verglich die Hirnanatomie der Männer mit der von 50 Normalsterblichen.

Mit der Navigation fertig werden

Der Befund: Die Hirne beider Gruppen ähnelten sich – bis auf eine daumengroße Struktur, den Hippokampus (griechisch für Seepferdchen, woran das Gebilde entfernt erinnert). Der Hippokampus liegt in den Schläfenlappen (siehe Grafik). Jeder Mensch hat zwei Ausgaben, einen in der linken, einen in der rechten Hirnhälfte. Es zeigte sich: Der hintere Teil der Hippokampi war bei den Taxifahrern deutlich größer. Je mehr Dienstjahre die Chauffeure auf dem Buckel hatten – einer fuhr seit 42 Jahren! –, desto voluminöser fiel das Areal aus. Maguires Fazit: „Der Hippokampus hat seine Struktur verändert, um mit dem enormen Ausmaß an Navigationserfahrung fertig zu werden.“ Der Hippokampus – ein Gedächtnismuskel.

Mittlerweile gehört der Hippokampus zu den bestuntersuchten Strukturen des Gehirns. Es gibt eigens eine Fachzeitschrift, die sich nur um das Seepferdchen im Kopf kümmert. Zusammengefasst, lassen die zahlreichen Studien folgenden Schluss zu: Der Hippokampus ist der Ort im Kopf, wo das Gedächtnis entsteht. Ohne ihn könnten wir uns so gut wie nichts merken.

Das bestätigt auch eine Untersuchung, die in der aktuellen Ausgabe des US-Fachmagazins „Science“ erschienen ist. Die Hirnforscherin Wendy Suzuki von der New York University gab zwei Affen eine eher trockene Lernaufgabe und beobachtete, was sich in deren Hippokampus abspielte. Die Affen bekamen verschiedene Bilder zu Gesicht, beispielsweise von Berlin oder von zwei Gorillas im Wald. Danach sahen sie auf einem Monitor vier Punkte, links, rechts, unten und oben. Die Aufgabe bestand darin, nach einem bestimmten Bild (zwei Gorillas) die Augen auf einen bestimmten Punkt zu lenken (Punkt oben) – nur bei der richtigen Assoziation gab es als Belohnung ein Schlückchen Orangensaft. Verblüfft stellte die Hirnforscherin fest, dass sich die Lernleistung des Affens an den Neuronen des Hippokampus ablesen ließ: „Je besser der Affe wurde, umso größer fiel auch die Erregung dieser Zellen aus“, sagt Suzuki. Und noch bevor der Affe die Aufgabe richtig gelernt hatte, zeigte sich in einigen Zellen schon ein Anstieg der Aktivität. „Das legt nahe, dass die Zellen des Hippokampus wirklich an der Bildung von Gedächtnis beteiligt sind.“

Der erste Beleg für diese Hypothese geht zurück auf das Jahr 1953. Ein junger Mann, der unter den Initialen „H.M.“ berühmt wurde, hatte seit seinem 16. Lebensjahr an epileptischen Anfällen gelitten. Die Krankheit schien unheilbar. Schließlich entschloss man sich zu einer radikalen Operation. Als der Fließbandarbeiter 27 Jahre alt war, entfernte der amerikanische Neurochirurg William Scoville große Teile seiner Schläfenlappen – darunter auch die beiden Hippokampi.

Die OP verlief gut, H.M. erholte sich rasch, auch die Krämpfe waren verschwunden. Nur: Der Chirurg hatte mit den Hippokampi auch H.M.s Fähigkeit, sich etwas Neues zu merken, für immer genommen. Von nun an konnte der Mann ein und die gleiche Zeitung immer wieder lesen – und jedes Mal wieder über die immergleichen Nachrichten staunen. Ärzte und Psychologen, die er jeden Tag in der Klinik sah, mussten sich jeden Tag wieder aufs Neue vorstellen. H.M.s IQ war von dem Eingriff unangetastet geblieben. Auch Erinnerungen von früher waren nicht verschwunden – verloren gegangen war nur die Fähigkeit, sich etwas Neues zu merken.

Die Fallgeschichte revolutionierte die Vorstellung, die wir vom Gedächtnis haben. Erst damals wurde klar, dass es ein Langzeit- und ein Kurzzeitgedächtnis geben muss; Letzteres war bei H.M. noch intakt. H.M. konnte sich nämlich durchaus noch etwas merken – aber nur für Sekunden.

Allmählich wurde die Rolle des Seepferdchens im Kopf immer klarer. Weitere Fälle wie H.M. zeigten, dass Verletzungen des Hippokampus nicht nur dazu führen, dass keine Erinnerungen mehr gebildet werden können. Auch Sachen, die die Patienten in den letzten Tagen und Wochen vor der Verletzung gelernt hatten, waren verschwunden. Der Hippokampus ist unser Arbeitsspeicher. Lernen wir etwas, wird es zunächst in den Zellen des Seepferdchens zwischengespeichert. Nach und nach überträgt sich der Inhalt dann in die Großhirnrinde.

Wir lernen im Schlaf

Das passiert während des Schlafs. So haben Forscher Ratten durch ein Labyrinth geschickt und ihre Hippokampuszellen angezapft. Sie entdeckten, dass gewisse Neuronen („Ortszellen“) immer dann „feuerten“, wenn sich die Ratte an einem bestimmten Ort befand. Als die Forscher nachts die selben Neuronen der Ratten beobachteten, stellten sie fest, dass die Ortszellen während des Nickerchens nacheinander reaktiviert wurden – als würde die Ratte im Traum noch einmal durchs Labyrinth gehen. Die Wissenschaftler gingen noch weiter und registrierten auch die Erregung von Neuronen in der Großhirnrinde. Da offenbarte sich ein enger Zusammenhang zwischen der Aktivität der Zellen im Hippokampus und derjenigen in der Hirnrinde – als würde der Hippokampus nachts zum Lehrer der Großhirnrinde!

Letzte Meldung: Der Biophysiker Theodore Berger von der Universität von Südkalifornien in Los Angeles entwickelt zurzeit die weltweit erste Hirnprothese. Es handelt sich um einen künstlichen Hippokampus. Einen Neurochip, auf dem sich eines Tages vielleicht auch der Stadtplan von London speichern lässt.

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