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Gesundheit: Suche Schule für mein Kind

Ein Gymnasium finden, in Berlin – das kann doch nicht so schwer sein. Oder?

Am Anfang haben wir eine Liste geschrieben. Welche Gymnasien kommen für unseren Sohn in Frage? Die Liste umfasste acht Berliner Schulen: Königin-Luise-Stift, Erich- Hoepner-Gymnasium, Hildegard-Wegscheider-Oberschule, Canisius-Kolleg, Graues Kloster, Goethe-Gymnasium, Gymnasium Steglitz, Französisches Gymnasium. Ähnliche Listen schrieben auch viele andere Leute in der Hauptstadt.

In Berlin dauert die Grundschulzeit sechs Jahre. Theoretisch. In Wirklichkeit versuchen fast alle Eltern, deren Kinder sich in ihrer Klasse im oberen Leistungsviertel befinden, für die fünfte Klasse einen Gymnasiumsplatz zu ergattern. Irgendwie. Es ist ein Kampf, manchmal ein verzweifelter, denn das Angebot entspricht nicht der Nachfrage. Das Angebot wird von der Stadtregierung künstlich knapp gehalten. Ein Schuldirektor sagte uns: „Ich würde gerne mehr Klassen anbieten, aber ich darf nicht.“

Der Berliner Senat hat jahrzehntelang für die fünfte Klasse hauptsächlich altsprachliche Gymnasien zugelassen, mit Latein und Griechisch. Erst in den letzten Jahren ist das Angebot unter dem Druck der Eltern etwas vielfältiger geworden. Die Regierung denkt: Wenn die Eltern schon so verbohrte bourgeoise Elemente sind, dass sie ihr Kind unbedingt aufs Gymnasium schicken wollen, dann soll es gefälligst auch Altgriechisch lernen!

Der Senat kann das Gymnasium ab Klasse 5 nicht völlig verbieten, obwohl er es wahrscheinlich gern täte. Privatschulen kann man in einer Demokratie nicht so leicht verbieten. Wenn sie nicht wenigstens ein paar staatliche Gymnasien zulassen würden, dann gäbe es in Berlin nur Privatgymnasien. Dann hätten womöglich die Kirchen eine Art Monopol. Das will die Regierung nun auch wieder nicht.

Warum lässt man sein Kind nicht einfach auf der Grundschule? Zum Beispiel, weil die Berliner Grundschulen finanziell noch mehr ausgeblutet sind als die Gymnasien. Sie haben ganz einfach nichts zu bieten. Seit Jahren wird versprochen, dass sie besser werden, dass ihr Angebot differenzierter wird, dass der frühe Englischunterricht mehr sein wird als eine Farce. Aber fast nichts passiert. In der fünften Klasse verschwinden die oberen zehn Prozent aus den Klassen, also die meisten Kinder, die zu Hause besonders gefördert werden oder besonders intelligent sind. Das verändert das Klima in den Klassen.

Die Berliner Bildungspolitik erreicht in allen Punkten das Gegenteil von dem, was sie sich auf ihre Fahnen geschrieben hat. Sie ist verlogen.

Erstens: Wegen des künstlich verknappten Gymnasialangebots herrscht schon ab der dritten Klasse ein harter Leistungsdruck. Nur, wer in allen Hauptfächern auf eins steht, hat bei den Gymnasien die freie Auswahl. Zweitens: Berlin fördert das klassische altsprachliche Gymnasium, aber nicht aus Überzeugung, sondern um Eltern von den Gymnasien abzuschrecken. Das schreckt aber vor allem die Eltern aus den so genannten „bildungsfernen“ Milieus ab. Bürgereltern haben keine Angst vor Latein, Arbeitereltern schon eher. Drittens: Eltern müssen in Berlin dafür kämpfen, dass ihr Kind auf das Gymnasium darf, dorthin, wo es stärker gefördert und gefordert wird. Es ist also keineswegs so, dass begabte Kinder, deren Eltern aber an Bildung desinteressiert sind, vom Staat gefördert werden. Oh nein. Ganz im Gegenteil. Wenn deine Eltern nicht für deine Bildung kämpfen, hast du in Berlin schlechte Karten.

Notendurchschnitt: nur 1,2

Wir besuchten Info-Abende, wir führten an der Seite unseres Kindes mit zitternden Knien Bewerbungsgespräche, wir schrieben Bittbriefe. Unser Sohn hatte nämlich nicht in allen Fächern eine Eins, sein Schnitt lag nur bei 1,2. Da beginnt heute für einen Zehnjährigen schon die Gefahrenzone.

Das Französische Gymnasium sortierten wir selber aus. Wir sind beide keine Franzosen, und beim Info-Abend wurde recht deutlich, was das bedeutet: Es ist ohne Vorkenntnisse nur mit extrem harter Arbeit zu schaffen, unter Verzicht auf Hobbys, Spielen, alte Freunde. Es wäre das Ende der Kindheit. Beim Canisius-Kolleg konzentrierte sich das Bewerbungsgespräch weitgehend auf die christlichen Qualifikationen der Eltern. Wieso man aus der Kirche ausgetreten sei, lautete die Einstiegsfrage. Das ist schon in Ordnung – eine katholische Schule ist halt katholisch. Andererseits: Die Kirche gibt Millionen für die Mission aus. Und hier kriegt sie ein Kind auf dem Silbertablett serviert, frei zum Missionieren, zum Preis von einem bisschen Bildung. Was soll daran falsch sein, aus kirchlicher Sicht? Nach dem Gespräch gingen wir innerlich auf Distanz zum Canisius-Kolleg. Aber das Kind war ganz verrückt nach der katholischen Schule.

Beim Gymnasium Steglitz erlebten wir im Bewerbungsgespräch ein Desaster. Der Fachbereichsleiter zeigte auf ein Bild in seinem Büro und fragte, was darauf zu sehen sei. Das Kind sagte: „Ein Tempel in Griechenland.“ Das hätte ich auch gesagt. Verdammt, es war aber ein Tempel auf Sizilien. Dann fragte er, was auf den kleinen Schildern neben den Pflanzen im Botanischen Garten steht. Verdammt, wir waren mit dem Kind noch nie im Botanischen Garten. Wir interessieren uns nicht so für Botanik. Das Kind sagte: „Der Name der Pflanze.“ Nahe liegend. Aber falsch. Falls Sie sich zufällig auch in Steglitz bewerben: „Der lateinische Name der Pflanze“, lautet die korrekte Antwort. Dann fragte er: „Wie heißt das Fach, das sich mit der Vergangenheit beschäftigt?“ Das Kind weiß es. Es weiß das doch. Mein Gott, ich habe Geschichte im Hauptfach studiert! Ich bin Historiker, wir besuchen gemeinsam alle historischen Ausstellungen, mein Kind weiß das doch im Schlaf! Aber es schweigt. Und schweigt. Es ist irgendwie verschüchtert.

Man muss überall an den Start gehen, schnell zugreifen wie an den Wühltischen im Schlussverkauf, damit man am Ende nicht mit leeren Händen dasteht. Nach und nach bekamen die anderen Kinder aus der Klasse unseres Sohnes ihre Plätze. Es gab zwei Schulen, von denen wir eine Absage hatten. Eine Schule hatte uns gleich mit offenen Armen genommen, eine altsprachliche. Bei den anderen waren wir theoretisch noch im Rennen, sogar in Steglitz. Sie nehmen überall zuerst die Einskommanull-Schüler. Nachdem deren Eltern sich entschieden haben, kommen kurz vor Schuljahresbeginn die anderen als menschliches Füllmaterial an die Reihe. Es herrscht eben Marktwirtschaft. Die Einser haben freie Auswahl, die Einskommafünfer und die Zweier müssen auf ihr Glück hoffen. Wer aber mit zehn Jahren in einem wichtigen Fach eine Drei hat, kann die besseren Schulen vergessen. So früh und hart werden in Berlin die Weichen gestellt, und das im Namen der sechsjährigen Grundschule und der Chancengleichheit. Als wir zwei Zusagen hatten, haben wir uns, ohne länger zu warten, für die Schule entschieden, die uns sympathischer war. Es war das Goethe-Gymnasium, weil wir dort am ehesten das Gefühl hatten: Sie schauen sich tatsächlich die Kinder an und nicht bloß die Zeugnisnoten. Wir sind sehr zufrieden. Zu den Lieblingsfächern des Kindes gehören ausgerechnet Biologie und Geschichte, mit denen wir in Steglitz so viel Pech hatten. Und das Kind besucht auf eigenen Wunsch den katholischen Religionsunterricht.

Chaos, Bittbriefe, Hauen, Stechen

Das Gute am Berliner Gymnasialsystem ist die angeblich unzeitgemäße, vermeintlich elternabschreckende Förderung der alten Sprachen. Natürlich – am Anfang ist man skeptisch, sogar, wenn man selber einst ein humanistisches Gymnasium besucht hat. Man hat die üblichen Anti-Latein-Argumente im Kopf. Und dann sieht man, was der Lateinunterricht in einem Kinderkopf bewirkt. Tatsächlich, das Kind lernt, strukturiert zu denken. Es lernt, wie Sprache und Logik funktionieren. Und es lernt etwas über den Ursprung der Kultur. Latein ist gut.

Und das Berliner Schulsystem ist im klassischen Sinn realsozialistisch, obwohl auch die CDU daran mitgestrickt hat. Wieso? Weil die Leute zu ihrem Glück gezwungen werden sollen. Und weil die Regierung ihre eigenen Dekrete mit der Wirklichkeit verwechselt. Sie verordnen aus weltanschaulichen Gründen die sechsjährige Grundschule, aber sie tun nichts Wesentliches dafür, die Grundschule wirklich zu einer attraktiven Alternative zum Gymnasium zu machen. Sie haben gar nicht das Geld dazu. Den Eltern, die für ihre Kinder das Beste wollen, also einen Gymnasiumsplatz, machen sie den Wechsel so schwer wie möglich. Am liebsten würden sie rund um ihre maroden Grundschulen eine Mauer errichten. Jetzt ist es wieder soweit: Bewerbungen überall, Hoffen und Bangen, Chaos, Bittbriefe, Hauen und Stechen. Mangelwirtschaft. Bildung in Berlin.

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