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Gesundheit: Tod in den Wassermassen

Vor 250 Jahren vernichtete ein Erdbeben Lissabon. Forscher streiten noch heute, wie es dazu kommen konnte

Erst erzitterte die Erde. Dann kam das Wasser. Am 1. November 1755 erschütterten heftige Erdstöße Lissabon. Wenig später wälzte sich eine riesige Flutwelle den Tejo hinauf und überflutete die Stadt. 60000 Menschen starben, die meisten davon ertranken in den Wassermassen. Der historische Tsunami wurde von den Antillen im westlichen Atlantik bis Hamburg am östlichen Rand der Nordsee registriert. 250 Jahre später streiten sich Wissenschaftler, wo die Quelle des Bebens lag und ob es tatsächlich die große Flutwelle auslöste.

Erdbeben auf der Iberischen Halbinsel gibt es häufiger. Hier schiebt sich die afrikanische Platte mit durchschnittlich vier Millimetern pro Jahr unter die eurasische. Immer wieder stockt die Bewegung, die Kontinente schieben weiter gegeneinander und drücken die Erdkruste an den Plattenrändern zusammen. Bis sie an ihrer schwächsten Stelle reißt und mit einem Schlag einige Meter nach vorn springt.

Die Kollision zwischen den beiden Kontineten galt lange als Erklärung für das Beben von 1755. Irgendwo unter dem Atlantik westlich von Portugal müssen Gesteine ruckartig um mehrere Meter gegeneinander versetzt worden sein und damit einen Tsunami ausgelöst haben – eine kleine Welle, die erst im flachen Wasser zur meterhohen Flutwelle wird. Wie zufällige Farbkleckse nehmen sich die sieben möglichen Erdbebenherde auf der Landkarte aus, die verschiedene Forschergruppen ausgemacht haben. „Keiner davon ist groß genug, um ein so starkes Beben auszulösen“, sagt Marc-André Gutscher, Geophysiker am Europäischen Meeresforschungsinstitut in Brest.

Er vermutet, dass der Tsunami, der Lissabon verwüstete, von einem Beben westlich von Gibraltar stammt. Und er glaubt, dass dieser gewaltige Erdstoß keine Erscheinung am Rand der Afrika-Europa-Kollision ist, sondern mitten aus einer Verschluckungszone kommt, wo eine Platte der Erdkruste unter eine andere abtaucht – subduziert wird, wie es die Geowissenschaftler nennen. „Mehr als 90 Prozent der großen Beben, die auch gewaltige Tsunamis auslösten, fanden in solchen Subduktionszonen statt“, sagt Gutscher.

Mittlerweile haben der Geophysiker Gutscher und seine Kollegen viele Hinweise für eine kleine Subduktionszone westlich von Gibraltar zusammengetragen. So werden in dieser Region sogar Beben in Tiefen zwischen 600 und 700 Kilometern registriert. Das ist außergewöhnlich, denn normalerweise ist es dort unten so heiß, dass alle Gesteine flüssig sind und keine Erdbeben entstehen können. „So etwas ist nur in Subduktionszonen möglich“, sagt Gutscher. Nur dort taucht kaltes Material von der Oberfläche schnell genug ab, um große Tiefen noch im festen Zustand zu erreichen, bevor sie schmelzen.

Die Stellen, wo kaltes Krustenmaterial abtaucht, können sichtbar gemacht werden. Gutscher erklärt, dass aus den Daten von Erdbebenwellen Bilder unseres Planeten erzeugt werden können. Auf diesen sei deutlich zu sehen sei, wo Platten bis in den Erdmantel abtauchen. „Wie Knochen auf einem Röntgenbild“, fügt er hinzu. Auch unter der Straße von Gibraltar machten Seismologen eine senkrecht abtauchende Platte bis in 700 Kilometer Tiefe sichtbar.

Nur noch wenige Geowissenschaftler bestreiten diese Subduktionszone. Die Kritiker betonen, dass diese Verschluckungszone mit 300 Kilometern Breite ausgesprochen klein sei und zudem aktive Vulkane fehlten. In den Anden beispielsweise stehen parallel zur Subduktionszone an der südamerikanischen Westküste ganze Vulkanketten, die wie Überdruckventile das verschluckte und geschmolzene Gestein wieder an die Oberfläche bringen.

„Stimmt“, sagt Gutscher. „Aber bis vor fünf Millionen Jahren gab es auch im westlichen Mittelmeer Vulkanismus, der klar auf eine Subduktion hinweist.“ Denn Geochemiker können bei Vulkangesteinen nachweisen, welche Komponenten in dem erstarrten Magma zuvor aufgeschmolzen wurden.

Aus GPS-Daten wissen die Forscher, dass sich die ozeanische Kruste, die zu Afrika gehört, und ein Kontinentsplitter unter dem Alboran Meer südlich von Spanien mit etwa fünf Millimetern pro Jahr aufeinander zu bewegen. Außerdem fanden die Forscher heraus, dass diese Plattengrenze nach Westen wandert und dabei die Alboran-Mikroplatte auseinander zeiht. Wie bei einem lang gezogenen Stück Gummi wird die Kruste dünner und bildet ein Becken für Ablagerungen, die hier bis zu zehn Kilometer mächtig sind.

Bei Cadiz in Südspanien fanden die Forscher ebenfalls Hinweise auf den Tsunami: In einer Lagune, in deren ruhigem Wasser vor allem feiner Schlamm abgelagert wird, liegen zwischen den feinkörnigen Sedimenten zwei Lagen aus grobem Sand. Das lässt auf ungewöhnlich starke Wasserbewegung schließen. „Es muss ein sehr großer Tsunami gewesen sein, denn zwischen der Lagune und dem offenen Meer ist eine sechs Meter hohe Halbinsel", sagt Gutscher.

Die obere Sandlage wurde datiert: 1755. Das Alter der zweiten Schicht, 200 v. Chr., passt zu den Altersbestimmungen für untermeerische Schlammströme am Kontinentalhang. Solche Turbidite können durch Erdbeben ausgelöst werden und über hunderte Kilometer in die Tiefen der Ozeane herabschießen. In den vergangenen 35000 Jahren gab es 21 Schlammströme vor Portugal. „Etwa alle 1700 Jahre scheint es ein großes Beben zu geben“, rechnet Gutscher vor. Es sei also eher unwahrscheinlich, dass es an dieser Subduktionszone westlich von Gibraltar bald wieder zu einem verheerenden Erdbeben und damit zu einer Flutwelle kommt.

Doch es gibt in dieser Gegend noch weitere Gefahren. Nach wie vor bewegen sich die afrikanische und die eurasische Platte aufeinander zu und bauen an ihren Rändern Spannungen auf, die sich plötzlich in anderen Bebenherden entladen können, warnt der Geophysiker. Diese Erschütterungen haben meist eine Stärke zwischen sechs und sieben. Damit können sie zwar keine Tsunamis auslösen, wie er sagt. Doch Gebäude könnten trotzdem zusammenstürzen. Darum sollte seiner Meinung nach auf jeden Fall erdbebensicher gebaut werden.

Das Rätsel um das Beben von Lissabon ist damit noch nicht gelöst. Der Tsunami kam sehr wahrscheinlich aus dem flachen Teil der Subduktionszone – kurz bevor die ozeanische Platte in die Tiefe stürzt. Doch von hier sind es 400 Kilometer bis zur portugiesischen Metropole. Die Flutwelle benötigte dafür immerhin 90 Minuten. Warum bebte die Erde so weit weg vom Bebenherd dennoch so stark? „Vielleicht hat das große Beben westlich von Gibraltar weitere Beben ausgelöst, beispielsweise in der Nähe von Lissabon“, vermutet Gutscher. Ob er Recht hat, kann heute niemand mehr sagen.

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