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Gesundheit: Total emotional

Wenn Ethnologen mit Hirnforschern zusammenarbeiten, fliegen die Fetzen. Ein Werkstattbesuch

Ein Sozialpsychologe reißt seinem Kollegen die Kreide aus der Hand und zieht einen Strich durch das Emotionsmodell an der Tafel. Eine Philosophin protestiert, während ein Verhaltenswissenschaftler hilflos die Arme hebt. Die Kontroverse, in die sich an diesem Montagmorgen die vier Frauen und fünf Männer im Bielefelder Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) verstrickt haben, hat es in sich. Kein Wunder, geht es doch um Emotionen.

Hier wird verwirklicht, was seit Jahren allenthalben gefordert wird: fächerübergreifende Vorhaben von Geistes- und Naturwissenschaftlern. Denn mit zunehmendem Wissen werden auch die Forschungsfragen immer vielschichtiger. Das belegt die Neurowissenschaft besonders deutlich. Für sie ist der Körper der Ursprung der Gefühle, das mit anderen Hirnregionen verbundene limbische System gilt als wichtigstes Zentrum für ihre Verarbeitung. Doch in die tieferen Schichten der Emotionen kann kein Fach allein vordringen. So betrachten Hirnforscher wie Jaak Panksepp affektive Phänomene als umfassende körperlich-psychische Gestimmtheiten. Dabei können Emotionen auch weitgehend unbewusst bleiben und körperlich doch manifest werden – „die Haare sträuben“ oder „das Herz höher schlagen lassen“.

Den Bielefelder Wissenschaftlern gelten „Emotionen als bio-kulturelle Prozesse“, so lautet auch der Name des Projekts, das von der Ethnologin Birgitt Röttger-Rössler und dem Neurophysiologen Hans Markowitsch gemeinsam geleitet wird. Die tiefsten Abgründe klaffen mitten in den Fach-Kulturen und nicht zwischen den grundverschiedenen Welten der Natur- und der Geisteswissenschaften, hat Röttger-Rössler entdeckt. „Offensichtlich reagieren auch Wissenschaftler besonders allergisch auf Kollegen aus verwandten Fächern, die den eigenen Vorstellungen nicht entsprechen“, schmunzelt sie. Ihre Erklärung: „Von einem Hirnforscher weiß ich, dass er eine andere Fachsprache nutzt, von einem Psychologen aber erwarte ich als Ethnologin, dass er meine Sprache spricht – was aber illusorisch ist.“ Entsprechend müssen interdisziplinär Forschende erst eine gemeinsame Sprachbasis bauen.

Eine Sisyphusarbeit, die an diesem Morgen auf die Stimmung schlägt. Der Philosoph, der vor sich hin sinniert, ob es „Freude“ jenseits sozialer Normen geben könnte, nervt den Rest der Gruppe mächtig. „Diese Diskussion hatten wir bereits“, sagt die Ethnologin. Die anderen nicken vorwurfsvoll, der Zerstreute wirkt beschämt. Was wiederum den Entwicklungspsychologen bestätigt, der „Scham“ auch als Angst definiert, von der eigenen Gruppe ausgeschlossen zu werden. Denn Emotionen, da sind sich die Forscher immerhin einig, spielen eine Hauptrolle im großen Drama um soziale Anerkennung, Gemeinschaft, Kommunikation.

Annäherung an Emotionen heißt auch, soziale Systeme auszuleuchten, in das Dickicht vorzudringen, aus dem Betroffenheit, Achtung, Ehrfurcht oder Verantwortungsgefühl kommen. In dem aber auch Ekel, Ärger, Wut entstehen – oder Terror. Denn Emotionen bewegen nicht nur das Individuum, sondern auch soziale Systeme wie Familie, Freunde, Gemeinschaft oder Kulturen. Eine Gesellschaft, in der Sexualität inmitten schlafender Kinder ausgelebt wird, hat anders strukturierte Bürger als eine prüde Gesellschaft. Gleichzeitig sind Affekte die unsichtbare Hand, die das Denken und Lernen lenkt. Und sie gestalten selbst Gesellschaften um.

„Vor nicht allzu langer Zeit empfanden viele Deutsche eine Scheidung als Schande, oder unverheiratete Schwangere schämten sich zu Tode“, erinnert Röttger-Rössler. Das „neue Fühlen“, zu dem auch ein neues Selbstwertgefühl der Frauen gehört, veränderte das soziale Gefüge. Diese Wechselwirkungen wiederum werden erst durch die Lernfähigkeit des Gehirns ermöglicht.

Mittlerweile diskutieren die ZiF-Forscher bereits vier Stunden. Der Mittagshunger verschärft die Krise noch. Ist das Ziel, in einem Projektjahr die Grundlagenforschung so weit voranzutreiben, dass darauf konkrete Forschungsfragen aufbauen können, zu hoch gesteckt? Jedenfalls schenken sich die Forscher nichts. „Für manche Wissenschaftler heißt interdisziplinär zu arbeiten schlicht, am Ende eines Projekts einen Sammelband zu veröffentlichen, in dem jeder seinen gewohnten Fach-Striemel abzieht“, erklärt Röttger-Rössler.

Was bedeutet fächerübergreifende Forschung dann? Auf keinen Fall, dass ein Philosoph dasselbe macht wie ein Neurowissenschaftler, versichert die Gruppe. Andererseits sollte ein Neurophysiologe nach dem Jahr am ZiF nicht mehr davon ausgehen, dass „unser westliches Gehirn die einzig existierende Hardware weltweit“ sei.

Beim verspäteten Mittagessen bestätigt sich: Hier tobt doch kein unversöhnlicher Konkurrenzkampf zwischen den Disziplinen. Vor den gefüllten Tellern hellt sich die Stimmung sichtlich auf. Und alle behaupten zufrieden, dass sie an diesem Morgen wieder ein gutes Stück Arbeit geschafft hätten.

Ruth Kuntz-Brunner

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