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Gesundheit: Triumph der Struwwelpeter

Die Reformschulen haben bei Pisa Traumergebnisse erzielt – weit über den internationalen Spitzenwerten

„Sicher, die Kinder fühlen sich wohl bei euch. Aber lernen sie denn auch was?“ – Mit solchen Reaktionen sind die Leiter der deutschen Reformschulen oft konfrontiert. Als Struwwelpeter-Schulen wurden sie oft beschimpft, als Kuschelpädagogen und Leistungsverweigerer. Doch nun hat sich das Blatt gewendet, und das ausgerechnet mit dem Schultest Pisa. Denn dabei haben die beiden profiliertesten deutschen Reformschulen hervorragend abgeschnitten und können auch auf gute Ergebnisse weiterer Reformschulen in Hessen verweisen.

Weit über dem deutschen Durchschnitt, mitten in der internationalen Spitze finden sich die Laborschule in Bielefeld und die Helene-Lange-Schule (HLS) in Wiesbaden mit ihren Pisa-Ergebnissen wieder. Nicht nur auf ihren Spezialgebieten, nein, beim Lesen, in den Naturwissenschaften und – etwas schlechter – auch in Mathematik. 598 Punkte erreichten die Schüler der HLS durchschnittlich in den Naturwissenschaften. Damit liegen sie sogar weit vor dem internationalen Pisa-Spitzenreiter Korea und immerhin 90 Punkte vor dem deutschen Pisa-Sieger Bayern. Rund 40 Punkte entsprechen dem Lernfortschritt eines ganzen Schuljahres, veranschlagen die Pisa-Forscher. Auch die Laborschule setzt sich in den Naturwissenschaften mit 526 Punkten weit vor die deutsche Spitze.

Beim Lesen schlagen die Schüler der Helene-Lange-Schule sogar Pisa-Spitzenreiter Finnland. Dass ihre Jugendlichen beim Lesen gut sind, wundert Schulleiterin Enja Riegel eigentlich nicht; denn Theaterspielen gehört zu den Schwerpunkten ihrer Schule. Schauspieler werden dazu eigens angeheuert. Das Geld dafür erarbeiten sich die Schüler, indem sie ihr Schulgebäude selbst putzen. An Anstößen zum Lesen fehlt es in der Schule auch sonst nicht, besonders die Projektarbeit bietet dazu Gelegenheit. „Wir legen Wert darauf, dass die Schüler die Ergebnisse ihrer Projektarbeit auch vor Publikum präsentieren“, sagt Enja Riegel. Etwa mit Wandzeitungen, Vorträgen oder eben mit Theaterstücken. „Theaterspielen macht Mut“, erläutert die Schulleiterin. „Wer sein Lampenfieber überwunden hat, wenn der Vorhang aufgeht, der traut sich danach auch in den Naturwissenschaften oder beim Rechnen etwas zu.“ Dem Lesenlernen nützt es außerdem.

Traumwerte bei sozialem Engagement

Fallen schon die Fachergebnisse gut aus, erreicht die Laborschule bei ihren selbstgesetzten Schwerpunkten geradezu traumhafte Werte. Die Kinder sind deutlich stärker bereit, Verantwortung zu übernehmen und sich für andere einzusetzen als vergleichbare Jugendliche anderer Schulen. Deutlich größer ist auch die Zufriedenheit von Eltern und Kindern mit „ihrer“ Schule und den Lehrern. Die Schüler fühlen sich beachtet, unterstützt und geben ihren Lehrern dafür gute Noten. Klarheit und Strukturiertheit des Unterrichts werden anerkannt.

In fast allen Bereichen überflügelten die reformerisch geschulten Kinder auch die Gymnasiasten ihres Bundeslandes. Dabei sind beide Reformeinrichtungen Gesamtschulen, die mit der zehnten Klasse enden. Allerdings haben sie eine sozial günstigere Schülerschaft als sonst an Gesamtschulen üblich. Nach diesem Kriterium suchen die Schulen zwar nicht aus, doch die Eltern entscheiden sich meist bewusst für eine Reformschule. Sitzenbleiben und ein Abschieben von Kindern zu anderen Schulen gibt es an beiden Schulen ohnehin nicht. Auch auf Noten verzichten beide bis zur neunten Klasse.

Den Schulen kommt offensichtlich zugute, dass sie ihre Arbeit beobachten und systematisch weiterentwickeln. Die Laborschule ist als einzige Versuchsschule in Deutschland unmittelbar einer Universität angegliedert. Sie wurde 1974 von dem Pädagogen Hartmut von Hentig gegründet. Besondere Aufmerksamkeit erregt seit jeher ihre Bauweise: Statt in separaten Klassenzimmern lernen die Kinder dort gemeinsam in einer großen „Halle“, die lediglich flexibel mit Grünpflanzen und mobilen Trennwänden untergliedert wird. Die HLS ist aus einem Gymnasium hervorgegangen und hatte ebenfalls für etliche Jahre wissenschaftliche Unterstützung durch Gerold Becker. „Wir sehen nicht weg“, das ist für Enja Riegel einer der Schlüssel des Erfolgs. Niemand bleibt sitzen. „Es ist überhaupt noch nie vorgekommen, dass jemand die Schule ohne Abschluss oder Anschluss verlassen hat.“ Wenn ein Schüler Probleme hat, ist zunächst der Klassenlehrer zuständig. Die Schule arbeitet aber auch mit einer Erziehungs- und einer Drogenberatung zusammen. Ein anderer Erfolgsfaktor seien Lehrerteams für jeden Jahrgang. Außerdem unterrichtet jeder Lehrer mit einer großen Stundenzahl in einer Klasse. „Und dann braucht man noch eine Schulleitung, die sagt: Ich will“, meint Riegel selbstbewusst. „Lehrer sind eben wie viele andere auch eher ängstliche Menschen. Für Veränderungen brauchen sie Unterstützung.“

Wer sich willkommen fühlt, lernt gut

Das Wichtigste ist für Enja Riegel das Schulklima. „Kinder lernen lieber, wenn sie sich willkommen fühlen und keiner sitzenbleibt“, sagt sie. Und wie findet man dafür die Lehrer? „Ich hatte am Anfang nur das Gymnasial-Kollegium.“ Durch Kontakte zu Waldorf- und anderen Reformschulen haben die Pädagogen dann dazu gelernt. Heute ist wohl kein Lehrer mehr an der Schule, der das Reformkonzept nicht unterstützt. Für geeigneten Nachwuchs sorgt auch die Zusammenarbeit mit der Hochschule.

Die spezielle Förderung der Schüler und eine „geschlechterbewusste“ Erziehung haben an der Laborschule auch zu einem Kuriosium geführt: Offensichtlich bekommt das Schulklima den Mädchen besser als den Jungen. Entgegen dem üblichen Trend haben die Mädchen jedenfalls in Mathematik deutlich bessere Resultate erzielt als ihre Mitschüler. Daran will die Laborschule nun arbeiten, meint ihr wissenschaftlicher Leiter, Klaus-Jürgen Tillmann. Dass die Mädchen nicht dem Klischee entsprechen, sei gut, aber auf Kosten der Jungen dürfe das nicht gehen. Dem männlichen Selbstbewusstsein der 15-Jährigen hat ihr Wissensrückstand aber offensichtlich keinen Schaden zugefügt. Sie schätzen sich trotzdem in Mathematik besser ein als die Mädchen.

Doch wie sind die Reformschulen eigentlich in die Pisa-Untersuchung gekommen? Grundsätzlich sind empirische Tests dort nicht populär. „In Hessen wurden auf Betreiben des Kultusministeriums alle vier Reformschulen bei Pisa getestet“, so Riegel. Die Schüler hätten eher lustlos reagiert, waren sie doch schon an der Vorgängerstudie Timss beteiligt. „Unsere besten Schüler waren jedenfalls nicht dabei.“ Die Laborschule kam auf eigene Initiative in den Test. Dort wurden anders als bei allen anderen Pisa-Schulen alle Neuntklässler einbezogen und alle 15-Jährigen. Die Bielefelder wollten es genau wissen.

Aus dem Beispiel lernen

Die Pisa-Ergebnisse der Reformschulen werden bei ihren Kritikern sicher nicht allzu erfreut aufgenommen. So haben sich die Kultusministerien bisher nicht lobend geäußert, wie sie es bei anderen guten Resultaten gern tun. Dazu trägt vermutlich bei, dass Gesamtschulen derzeit keine gute Presse haben. Im Allgemeinen zielten die Reaktionen nach den schlechten Pisa-Ergebnissen eher auf Verschärfungen, mehr Lernen und mehr Prüfen. Die Riesenerfolge der Reformpädagogik passen da nicht so recht ins Bild. Dass Gesamtschulen hervorragende Resultate hervorbringen, darauf hatten andererseits die Ergebnisse fast aller erfolgreichen Pisa-Staaten vorbereitet. Nun muss die Suche nach erfolgreichen Schulen nicht immer nach Skandinavien führen.

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