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Gesundheit: Unglaublich harmonisch

Von Juliane von Mittelstaedt Der erste Eindruck: rohes Fleisch. Beim ersten Schritt auf den hellen Dielenboden hat der Besucher es direkt vor Augen – Fleisch, Augenhöhlen, ein Kunstbild mit krassem Schockeffekt.

Von Juliane von Mittelstaedt

Der erste Eindruck: rohes Fleisch. Beim ersten Schritt auf den hellen Dielenboden hat der Besucher es direkt vor Augen – Fleisch, Augenhöhlen, ein Kunstbild mit krassem Schockeffekt. Walter kramt ein anderes Foto hervor, mit einem Hahnenkopf – pur, ohne Federn. „Das hing bis vor kurzem noch am Kühlschrank". Walter ist Designstudent und Vegetarier noch dazu, der einzige hier. Abschreckung also? Er grinst nur und zündet sich eine Zigarette an. „Rauchen ist bei uns Aufnahmebedingung", ergänzt Saskia, pfriemelt Tabak ins Papier und lacht. Eine geräuschdämpfende Qualmwolke senkt sich über die Schöpfe von Sascha, Lorenz, Jacob, Saskia und Walter.

Wenn vier Designstudenten und ein Krankenpfleger in spe auf 180 Quadratmetern zusammentreffen, wird es bunt. Skurriler Trödel-Trash, Retrodesign und moderner Schwedenlook werden fließend zum Ganzen. Ein Generationen umspannendes Stelldichein innenarchitektonischer Stilwechsel kondensiert sich da zwischen plüschiger Flokatilampe und „Billy" von Ikea. Jacob mit dem roten Schopf grinst: „Bloß keine durchgestylte Wohnung." Diese Gefahr droht indes nicht.

Lorenz residiert ein Stück erhoben auf einem Podest, Backstein lugt aus der Wand. Gleich daneben wohnt Walter, der alles selbst gemacht hat, von den Bildern bis zum Bett. Übrigens die einzigen „echten“ Möbel hier. Ein richtiges Wohnzimmer gibt es nicht. „Wenn wir Fernsehen gucken, dann liegen wir alle im Bett von Sascha", sagt Walter. Und der tappt dann morgens beim Aufstehen in einen verknautschten Bodensatz aus Socken, Chipstüten und Aschenbechern. Es fällt das Stichwort Aufräumen. „Am Anfang haben wir eine Liste gemacht, aber das haben wir ganz schnell gelassen." Es geht auch so. „Wir sind da tolerant."

Die Toleranz endet abrupt an der Stereoanlage: „Die Männer hören ja nur Softie-Mucke", findet Saskia. Kissen zwischen ihrem und Jacobs Zimmer sollen den Schall etwas dämmen. Aber streiten? Ach nö. Abends sitzen sie meistens zusammen in Jacobs Arbeitszimmer zwischen Computer, Clipboard und dem Zeichentisch, auf dem sich ein Zentner Skizzen stapelt. Und fachsimpeln, natürlich. Über Entwürfe, Projekte und gemeinsame Ideen; denn Saskia, Sascha, Jacob und Walter studieren Kommunikations- beziehungsweise Produktdesign an der Fachhochschule Potsdam, alle sehr engagiert und alle im zweiten Semester.

Das ist natürlich kein Zufall. Sascha, Opfer einer „Zweck-WG", hat sich mit Saskia auf Wohnungsuche gemacht. Auf einer gemeinsamen Projektfahrt zur Hallig haben sich Jacob und Walter dann angeschlossen, letzterer wohnte vorher schon mit Lorenz zusammen, der mitzog („Falls sich mal einer der Produktdesigner in den Finger schneidet!"). Und so kam es. Seit zwei Monaten ist die „Familienersatzfamilie" komplett. Die Wohnungssuche war anstrengend, ächzt Jacob: „Wir haben die ganzen Semesterferien lang jeden Quadratmeter in Berlin abgeklappert." Aber alles war zu teuer, zu klein, nicht WG-tauglich. Die Wohnung in Pankow dagegen war Liebe auf den ersten Blick. Mit Dielen und Intarsienboden, schön verzierten Kaminen und drei Balkonen – und vor allem: viel Platz. Auch in der Küche, wo sie unter einem dunkelbraunen Monstrum aus Furnier hocken, das wie eine preußische Eiche in den Raum ragt. Eine Vormietersünde. Zur Auflockerung haben sie über die Halogenstrahler rote Folie geklebt.

In der Ecke schielt Arafat stets etwas schmollend von einem goldbarocken Ölbild. Einer der Engel wurde enthauptet und durch ein Porträt vom Palästinenserpräsidenten zu neuem Leben erweckt. Arafat mit Keffiya-Heiligenschein guckt Hausmann Walter beim Kochen in die Töpfe und kann beruhigt sein: Fleisch kommt da nicht rein, meistens gibt es Nudeln mit Sahnesauce, schwäbelt Walter. Ob Arafat das mag? Egal, den vier „Zwangsvegetariern" schmeckt es, auch ohne Tier. Sascha flüstert: „Manchmal schmuggle ich heimlich eine Salami ein." Oder Mama schickt sie. Die Fresspakete von Saschas Mutter sind legendär: Neulich kam eine Umzugskiste prallvoll mit Kuchen und Konserven. Wenn die alle ist, geht meistens Saskia mit der Haushaltskasse einkaufen, obwohl sie eigentlich „die Hosen an hat", wie die vier Männer finden. Kein Wunder, als einzige Frau. „Ja, Saskia ist unsere Macherin", findet Sascha. „Echt, ach nö?", staunt die und feixt zurück: „Aber dafür ist Sascha unser Kind." Sascha, dessen Haare sich in der Kopfmitte zu einem kleinen Hügel auftürmen, schiebt einen Schmollmund. Und grinst gleich wieder.

Wirklich gestritten haben sich die Fünf noch nie. „Es ist unglaublich harmonisch", grübelt Walter. Es passe einfach, urteilen sie einstimmig. Vor ein paar Wochen feierten sie den Einstand – mit 140 Gästen. Fast alle haben sich vormerken lassen, „falls mal ein Zimmer frei wird“. Zu ergänzen bleibt: Die meisten zwängten sich in die Küche unter die preußische Eiche, wie sich das eben so oft ergibt. Arafat im Engelskostüm guckt noch immer etwas in die Enge getrieben.

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