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Gesundheit: Unter einem Dach

Anfangs waren Medizinische Versorgungszentren umstritten. Inzwischen gibt es 130 davon in Berlin Doch was genau verbirgt sich eigentlich hinter dieser neuen Praxisform? Ein Besuch am Kottbusser Tor

Turhan Keles hat alle Hände voll zu tun. Die vielen kleinen Patienten des Kinderarztes passen gar nicht alle ins Wartezimmer. Sie sitzen und stehen auf dem Flur, vor allem aber rennen sie herum. In der Arztpraxis am Kottbusser Tor herrscht mindestens so viel Trubel wie draußen auf der Straße. Turhan Keles leitet ein sogenanntes Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ). Hier kooperieren Ärzte verschiedener Fachrichtungen unter einem Dach, in der Regel als Angestellte. Diese neuartige Praxisform entstand 2004 mit dem „Gesetz zur Modernisierung der Gesetzlichen Krankenversicherung“. In Berlin gibt es inzwischen 130 MVZ mit rund 700 Ärzten. Bundesweit weist nur noch Bayern mehr auf.

Seit ihrer Einführung sorgen die Zentren für Diskussionen unter Experten und in der Öffentlichkeit. Ziel des Gesetzgebers war es, die Kosten zu reduzieren, die Versorgung zu verbessern – da sie in solchen Einrichtungen aus einer Hand erfolgt –, und sicherzustellen, dass es in unterversorgten Gebieten genug Ärzte gibt. Gerade den letzten Punkt kritisiert die Kassenärztliche Bundesvereinigung. Medizinische Versorgungszentren, behauptet sie, könnten die Unterversorgung vor allem in Ballungsgebieten sogar noch verschärfen, indem sie Arztsitze in sozialen Brennpunkten aufkaufen, um sie dann an attraktive Standorte zu verlegen. Nach Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin ziehen die Medizinischen Versorgungszentren tendenziell in die Mitte der Stadt, während es am Stadtrand kaum solche Einrichtungen gäbe. In Mitte zum Beispiel sind derzeit 19 und in Charlottenburg-Wilmersdorf 16 Versorgungszentren registriert, während Lichtenberg gerade einmal auf 6 und Marzahn-Hellersdorf auf 9 solcher Einrichtungen kommen. Bernd Köppl, Vorsitzender des Bundesverbandes Medizinische Versorgungszentren und Ärztlicher Leiter des Sana Gesundheitszentrums in Lichtenberg, sieht es dagegen genau andersherum: Für ihn stabilisieren die MVZ in Neukölln, Hohenschönhausen und Lichtenberg gerade die Versorgung in sozial schwachen Gebieten, in denen ansonsten Unterversorgung herrschen würde. „In die wohlhabenden Bezirke wandern vor allem niedergelassene Ärzte aus, also gerade nicht die, die in MVZ arbeiten“, so Köppl.

Die Idee, Ärzte verschiedenster Fachrichtungen in einem Gebäude anzustellen, die Patientenakten zentral zu verwalten und teure Medizintechnik gemeinsam zu nutzen, war auch das Prinzip der in der DDR existierenden Polikliniken. Nach der Wende retteten sich zwar einige dieser ambulanten Versorgungszentren in die neue Zeit herüber, doch sie führten ein Schattendasein – auch in Berlin. Für die wenigen Einrichtungen mit angestellten Ärzten, die bis zum Stichtag 3. Oktober 1992 überlebt hatten, gewährte der Gesetzgeber zwar einen Bestandsschutz, doch war dieser verbunden mit so strengen Restriktionen, dass ihr Ende nur eine Frage der Zeit zu sein schien. So war verboten, Standorte zu verlegen oder neue Fachärzte einzustellen. Ermöglicht wurde das Comeback der Poliklinik erst 2004 durch die Gesetzesänderung.

Turhan Keles hat das Zentrum in der Skalitzer Straße 2004 gemeinsam mit dem Allgemeinmediziner Ismail Nevzat Tuncay gegründet. Rund 8 000 Patienten werden hier im Quartal behandelt. Von der Anonymität, die den MVZ oft nachgesagt wird, ist hier nichts zu spüren. Die Arzthelferin am Empfangstresen lässt sich trotz des Trubels nicht aus der Ruhe bringen. Die Atmosphäre unterscheidet sich in nichts von der einer ganz normalen Gemeinschaftspraxis.

Tatsächlich gibt es keine nennenswerten Unterschiede zwischen einem MVZ und einer Gemeinschaftspraxis. Früher war das anders: Da konnten in einer Gemeinschaftspraxis keine Ärzte angestellt werden. Deshalb wandelten viele niedergelassene Ärzte ihre Gemeinschaftspraxis in ein Zentrum um. 2007 wurde das entsprechende Gesetz geändert. Seither können auch in Gemeinschaftspraxen Ärzte angestellt sein. Jetzt gibt es nur noch marginale Unterschiede. So muss ein MVZ fachübergreifend sein, während in einer Gemeinschaftspraxis auch mehrere Ärzte der gleichen Fachrichtung arbeiten können. Dafür können in einem Medizinischen Versorgungszentrum auch nichtärztliche Heilberufe vertreten sein.

Patienten wie Maren Scholz (Name geändert) beklagen trotzdem die fehlende freie Arztwahl und die unpersönliche Atmosphäre. Die Praxis ihres Hausarztes in Neukölln ging vor einigen Jahren in einem MVZ auf. „Das war eine Riesenumstellung“, sagt die 46-Jährige. Am einschneidendsten habe sie empfunden, dass sie nun nicht mehr automatisch zu ihrem Hausarzt konnte, wenn sie das wollte, sondern mit dem Kollegen vorlieb nehmen musste, der gerade frei war. „Das Praxispersonal ließ auch gar nicht mit sich diskutieren“, sagt Scholz. „Mit dem gleichen Problem immer wieder bei einem anderen Arzt zu landen gibt einem das Gefühl, fremd zu sein in einer Praxis, in die man schon seit Jahrzehnten geht.“

Familie Akin hat im MVZ am Kottbusser Tor andere Erfahrungen gemacht. Für sie ist das Versorgungszentrum Kinderarzt- und Hausarztpraxis in einem. Die Eltern lassen sich von Ismail Nevzat Tuncay behandeln, mit ihren drei Kindern gehen sie zu Turhan Keles. Der hatte übrigens auch festgestellt, dass der älteste Sohn Abdullah hochbegabt ist. Für die Mutter Ayfer Akin ist das ein Zeichen, dass die Ärzte vom Kottbusser Tor ihre Patienten gut kennen. Und was die freie Arztwahl betrifft: Da lassen die Arzthelferinnen immer mit sich reden. „Wenn wir darauf bestehen, kommen wir meist zu dem Arzt unserer Wahl“, sagt Ayfer Akin. Immer gelingt das allerdings nicht. Einige Ärzte arbeiten Teilzeit und haben nicht die Kapazitäten, kontinuierlich alle Patienten zu betreuen, die zu ihnen kommen. Manchmal ist der Andrang auch schlicht zu groß. Die Akins sagen, sie haben Verständnis dafür. Ihnen genügt es, dass hier zumindest immer versucht wird, eine kontinuierliche Arzt-Patient-Beziehung aufrecht zu halten. Treue spielt auf beiden Seiten eine große Rolle. Viele der Patienten, die heute zu Turhan Keles kommen, waren schon bei ihm, als er noch seine Einzelpraxis hatte. Da er das medizinische Versorgungszentrum nicht weit von dem Standpunkt seiner alten Praxis entfernt eröffnet hat, sind sie mit ihm mitgezogen. Fast alle Ärzte, die heute dort arbeiten, hatten ihre Praxen früher schon in der Umgebung.

Der Erfolg von Medizinischen Versorgungszentren wie dem von Turhan Keles trägt dazu bei, dass der Widerstand gegen diese neue Praxisform bröckelt. Der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Köhler, sagte jüngst, er würde MVZ inzwischen akzeptieren. Die Kritiker scheinen sich mit den neuen Realitäten abgefunden zu haben.

Ina Harloff

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