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Gesundheit: Verlorene Schätze

Tausende Altertümer sind unerforscht: Warum sich die Türkei mit der Archäologie schwer tut

Eigentlich sollte man den ganzen Krempel wegsprengen, sagt der Archäologe und meint die hoch aufragenden Zeugnisse der Klassischen Antike an der türkischen Westküste – Thermen, Tempel, Theater. Die gehören zu so glanzvollen Namen wie Ephesus, Didyma, Milet oder Pergamon und künden vom geistigen Aufbruch des Menschen in die Moderne: Hier wurde zwischen 800 und 400 vor Christus die Mythologie durch Wissenschaft ersetzt, Philosophie und Mathematik erfunden und die Ilias geschrieben. Die Ecke gilt als Geburtsregion Europas.

Das an Häresie grenzende Wunschdenken des Archäologen ergibt sich aus seiner Stellung innerhalb der Altertumswissenschaften: Er ist Prähistoriker und kommt an den Nachlass der ihn interessierenden Menschheitsepoche – etwa die Bronzezeit des 3. und 2. Jahrtausends vor Christus – nicht heran. Denn der liegt unter den Ruinen der Klassischen Antike. Doch auch die Bronzezeit ist hochinteressant, in ihr formierten sich im östlichen Mittelmeerraum die Gesellschaften und Kulturen: Die Ägypter, Assyrer, Hethiter, Mykener rangen um Ressourcen, Einfluss und Handelswege. Die Schrift, das Beamtentum, das Rad wurden erfunden, die ersten Gesetze kodifiziert und das Gilgameschepos verfasst.

Das Dilemma der Archäologen in Anatolien – wie generell in vielen Teilen des Vorderen Orients – ist die überbordende Fülle der menschlichen Kultur- und Zivilisationszeugnisse. Die Wissenschaftler kommen nicht hinterher mit Dokumentation und Sicherung antiker Zeugnisse – aus welcher Epoche auch immer.

Es fehlt an Zeit: Galoppierende Infrastrukturmaßnahmen, Wohnungs- und Straßenbau sollen in vielen Gegenden regionale Entwicklungsdefizite beheben. Da sind archäologische Funde hinderlich.

Es mangelt an Geld: Staaten, die ihr Bildungssystem ausbauen, die Gesellschaft modernisieren und die Wirtschaft ankurbeln wollen, haben kaum finanzielle Ressourcen für „brotlose Künste“ wie Altertumskunde. Allerdings, so weiß der deutsche Archäologe Harald Hauptmann aus Gesprächen mit türkischen Kollegen, ist der jetzige Kultusminister in Ankara, Attila Koc, „an Archäologie außerordentlich interessiert“. Hauptmann, 30 Jahre als Archäologe in der Türkei tätig und lange Direktor der Abteilung Istanbul des Deutschen Archäologischen Instituts (DAI), sagt: „Alle türkischen Archäologen bekommen das Geld, das sie benötigen.“

Oft schwächelt auch der politische Wille, kulturelles Menschheitserbe zu bewahren – vor allem, wenn dieses aus einer ideologisch-religiös oder geschichtlich unerwünschten Zeit stammt. Vor allem eine Aversion der Türken gegenüber allem, was vor ihrer Ankunft im Lande im Jahr 1071 stattfand, wird oft beklagt (vgl. Tagesspiegel vom 3. Juli). Felix Pirson, der Chef des Deutschen Archäologischen Instituts in Istanbul, hat andere Erfahrungen gemacht: „Das Gegenteil ist der Fall. Bei unseren Arbeiten haben wir keinerlei Probleme, wenn es um vorislamische oder vortürkische Vorhaben geht.“

Die Staaten des östlichen Mittelmeerraums gehen unterschiedlich mit „ihrer Archäologie“ um. Jordanien hat die Archäologie dem Wirtschafts- und Tourismusministerium zugeschlagen und tut viel für Erforschung und Erhalt der Vergangenheit. Israelis und Palästinenser nutzen archäologische Zeugnisse gern zur Untermauerung (prä-)historischer Landansprüche. Für Ägypten ist der Fremdenverkehr der wichtigste Wirtschaftsfaktor, Altertum und Tourismus sind deckungsgleich, die Archäologie profitiert davon. Gefördert wird die Erforschung der Vergangenheit in Ländern, die über das kulturelle Erbe ein modernes Selbstbewusstsein aufbauen wollen, etwa in Oman oder im Jemen.

In der Türkei ballen sich die Probleme mit der Vergangenheit, denn in diesem riesigen Land – mehr als doppelt so groß wie Deutschland – haben alle ihre Spuren hinterlassen. Angefangen beim Homo sapiens auf seinem Eroberungszug aus Afrika in die Welt über die Jäger und Sammler der Steinzeit bis zu den frühen Hochkulturen: In Kleinasien finden Forscher Architektur aus Uruk, Handelsstädte der Assyrer und altägyptische Garnisonen. Die Griechen wanderten ein, die Kimmerier verwüsteten die Städte, die Perser überrannten das Land, die Römer machten es zur Provinz asia minor: Kleinasien, Schmelztiegel der Zivilisationen.

Es gibt tausende von archäologischen Stätten in diesem Land, unzählige rufen nach wissenschaftlicher Beachtung und Begutachtung. Umso unverständlicher sind dann Behinderungen ausländischer Archäologen, die immer wieder vorkommen. So wurde dem Marburger Hethiter-Forscher Andreas Müller-Karpe vor einigen Jahren ohne Angabe von Gründen die jährlich notwendige Erneuerung seiner Lizenz für die schon lange laufende Ausgrabung verweigert. Adolf Hoffmann, bis vor kurzem Chef der Istanbuler DAI-Dependance, bekam für seine Untersuchung einer spektakulären Bergfestung in Kilikien keine Genehmigung für eine simple Suchbohrung, obwohl den Behörden bekannt war, dass die archäologischen Arbeiten zu Ende gingen.

Alle archäologischen Stätten haben ihre speziellen Probleme und eigenen Geschichten: In Milet muss für jede Grabungskampagne mühsam das Grundwasser weggepumpt werden, um an die Zeugnisse der Bronzezeit heranzukommen. In Ephesus entreißt man erst jetzt das antike Hafengelände dem Gestrüpp der Jahrtausende. Die zweite Hauptstadt der Hethiter, Tarhuntassa, ist noch nicht einmal wiedergefunden worden.

In Kilikien kann der Gebietsarchäologe, Mustafa Sayar, mangels Zeit, Geld und Mitarbeitern meist nur die im Gelände erkennbaren Häuser, Theater, Foren archäologischer Stätten kartieren lassen, an Ausgraben ist nicht zu denken. In Urla, westlich von Izmir, könnte mit Limantepe eine Stadt ausgegraben werden, die nach den bisherigen Funden größer, älter und bedeutender gewesen ist als Troja. Die Liste des Wünschenswerten ließe sich beliebig fortsetzen.

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