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Gesundheit: Verriss der Disziplin

„Weltfremd“: Pädagogen widersprechen Bernhard Buebs Lob der autoritären Erziehung

Rund 400 000 verkaufte Exemplare, mehrere Monate in den Bestsellerlisten: Bernhard Buebs „Lob der Disziplin“ hat geschafft, was Erziehungsratgebern zuletzt vielleicht in den 70er Jahren gelang. Der ehemalige Leiter des Internats Salem gab seinem Buch – mit aller Voraussicht und einigem Kalkül – den Untertitel „eine Streitschrift“. Gestritten wurde in den vergangenen Monaten in der Tat viel. Ist „vorbehaltlose Anerkennung von Autorität“ die Lösung, wie Bueb vorschlägt? Nun legen renommierte Pädagogen ein ganzes Buch vor, das die Thesen vom harten Erziehungskurs entkräften soll: „Vom Missbrauch der Disziplin. Antworten der Wissenschaft auf Bernhard Bueb.“

Acht Antworten sind es geworden. Dem „Lob“ setzen sie historische, psychologische, sozialstatistische und neurobiologische Forschungsergebnisse entgegen. Ihre Kernaussage: Was Bueb als Erkenntnis seines langen Berufslebens präsentiert, habe „keinen Fetzen Realitätsgehalt“. So kommt Wolfgang Bergmann, Kindertherapeut in Hannover, zu dem Schluss, dass die geforderte Rückkehr zur autoritären, strafenden Erziehung „weltfremd“ und schädlich sei. Wer heute Buebs Methoden folge, provoziere bei Kindern erst recht Konflikte – oder werde schlichtweg ausgelacht. Den schwierigen Fällen, die Bergmann in seiner Praxis behandelt, sei so jedenfalls nicht beizukommen.

Zu wenig beachte Bueb verschiedene Lebens- und Erziehungsmilieus, kritisiert der Pädagogikprofessor Micha Brumlik. Mit „Dogmen“ könne man „vielleicht den Drogenmissbrauch in einem Oberschichteninternat“ unterbinden, aber kaum den Unterricht an vielen Grund-, Haupt- oder Realschulen bewältigen. Für alle Schulformen gelte: Autoritäre Erziehungs- und Lehrstile führen zu geringem Lernerfolg. Der pensionierte Internatsleiter verfolge wohl die empirische Bildungsforschung seit einigen Jahrzehnten nicht mehr.

Mehrere Aufsätze beschäftigen sich mit der „Verfallsgeschichte“, die Bueb erzähle. Diese führt den heutigen „Notstand“ auf eine entscheidende Zäsur zurück: Die 68er hätten mit ihrem antiautoritären Erziehungsstil Macht, Autorität und Disziplin entwertet. Jetzt sehe man die Folgen: Orientierungs- und Respektlosigkeit, Egoismus und mangelnder Gehorsam. Der Antwortband zeichnet nach, dass diese Klage alles andere als neu ist. In der Wilhelminischen Zeit – deren großbürgerliche Erziehungspraxis Bueb so manches Mal lobt – folgten die Bücher selbst ernannter „Volkserzieher“ jenem Muster.

Neuere Bildungsstudien zeigten außerdem: Aus den so genannten Kinderladen-Kindern, geprägt durch die antiautoritäre Erziehung in den 70er Jahren, seien keineswegs „Schulversager und Devianten“ geworden. Bueb gehe es, schreibt die Erziehungswissenschaftlerin Sabine Andresen, um ein größeres Ziel: Er wolle „eine allgemeine Kulturkrise ausrufen“ und sich einbringen in die „bürgerliche Debatte“ um eine „patriarchalische Leitkultur“. Ein weiteres Argument der Autoren lautet: Die 68er hätten in der Nachkriegszeit genau die Erziehung genossen, die Bueb nun fordert. Für ihren Gehorsam waren sie nicht bekannt.

Hingegen stimmt der Psychiater Manfred Spitzer dem „Lob der Disziplin“ zumindest teilweise zu: „Wiederholung ist die Mutter des Lernens.“ Bueb habe also recht, wenn er auf feste Rituale und Verlässlichkeit in der Erziehung pocht. Was als Regel erkennbar ist, speichere das Gehirn eher. „Pfade“ in der Gehirnstruktur entstehen etwa durch das Lernen einer Grammatik – oder auch das stete Wiederholen bestimmter Verhaltensweisen.

Und die Autoren geben zu: Die Erziehungswissenschaft habe bislang auf die Veränderungen der modernen Kindheit „keine oder seltsam versponnene Antworten“ gegeben. Hilfesuchenden Eltern und Pädagogen erscheine Buebs Weg einfach, funktional, attraktiv. Die Wissenschaft dürfe sich, das könne man aus Buebs Erfolg lernen, „nicht zu fein sein“, Praxisbücher zu schreiben.

Micha Brumlik (Hrsg.): Vom Missbrauch der Disziplin. Antworten der Wissenschaft auf Bernhard Bueb, 246 Seiten, 12,90 Euro, Beltz Verlag: Weinheim und Basel 2007

Tina Rohowski

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