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Gesundheit: Von Kindern und Soldaten

Eine umfassende Enzyklopädie des Ersten Weltkrieges gibt überraschende Einblicke

Dieser Krieg hat Konjunktur: Knapp 90 Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges erinnert man sich in Deutschland wieder an die blutigen Jahre von 1914 bis 1918. Zeitschriften produzieren Sonderhefte, ein ganzer Schwung von Neuerscheinungen kommt in die Buchläden, und das Deutsche Historische Museum zeigt bis zum 15. August eine Ausstellung über das große Sterben zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

So viel Aufmerksamkeit für die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ ist selten. Viele Deutsche erinnern sich zwar vage an „Im Westen nichts Neues“, den bedrückenden Roman Erich Maria Remarques, an flackernde Filmschnipsel mit Soldaten, die im nervösen Tremolo zwischen den Fontänen der Granateinschläge umherrennen; vielleicht noch an Verdun oder Hindenburg. Danach erlischt das Interesse meist zügig.

Anders bei den ehemaligen Gegnern: In Frankreich spricht man heute noch viel vom „Grande Guerre“; in Italien liegen Illustrierte über „La Grande Guerra“ an den Kiosken aus. Auf der britischen Insel gehört der „Great War“ zur Alltagskultur.

In Deutschland aber ist der „Große“ Krieg ein anderer, hier hat die Ostfront von 1941 die Westfront von 1914 in der kollektiven Erinnerung verdrängt. Und um die professionelle Forschung ist es ebenfalls lange ruhig gewesen, nachdem der Hamburger Historiker Fritz Fischer mit seiner These von der deutschen Hauptverantwortung für den Krieg noch 1961 erhitzte Kontroversen ausgelöst hatte. Mittlerweile ist die eher spröde Diplomatie-Geschichte in den Hintergrund getreten, und man konzentriert sich auf die sozialen und wirtschaftlichen Aspekte des Krieges.

Die Forschungslage also war gut, aber unübersichtlich. Bis jetzt. Denn nun haben Gerd Krumeich von der Universität Düsseldorf sowie Gerhard Hirschfeld und Irina Renz von der Stuttgarter Bibliothek für Zeitgeschichte ein Buch herausgegeben, das die endlosen Meter an Forschungsliteratur beispielhaft zusammenfasst. Entstanden ist ein hervorragendes Werk: 1000 Seiten reichen der Enzyklopädie, um alle wesentlichen Aspekte des Ersten Weltkrieges sinnvoll zu bündeln.

Fachleute aus mehreren Ländern erklären in 26 einleitenden Aufsätzen die wichtigsten Ereignisse und Deutungen, übersichtlich gegliedert nach den beteiligten Staaten und den betroffenen Gesellschaftsgruppen – etwa Frauen, Kinder, Arbeiter oder Wissenschaftler; natürlich auch Soldaten – und den einzelnen Phasen des Kriegsverlaufs. Knappe, präzise Beiträge informieren zudem über die Wechselwirkung der Schlachten mit Religion und Propaganda, mit Medizin und Wirtschaft. Schade ist nur, dass sich zwar ein Essay zur Literatur des Krieges findet, keiner jedoch über die Kunst. Warum lesen wir nichts über die Auswirkungen auf die Kunst des Sanitätssoldaten Max Beckmann, des Feldartilleristen Ernst Ludwig Kirchner, des Gefangenenaufsehers Egon Schiele?

Die lückenhafte Darstellung der kulturellen Verwerfungen des Krieges bleibt allerdings die einzige Schwäche des Werkes. Denn mit dem umfangreichen lexikalischen Teil werden Maßstäbe gesetzt: Mit über 650 gut lesbaren Einträgen öffnet sich eine Fundgrube an Weltkriegswissen. Neben Biografien von Generälen und Staatsmännern, anschaulichen Beschreibungen von Schauplätzen und Schlachten verführen gerade vermeintliche Nebensächlichkeiten zum Lesen. Wir erfahren etwa von den Fortschritten der Werbewirtschaft im Krieg, vom Ernährungsmangel der Pferde – auf deutscher Seite wurden 1,5 Millionen Tiere eingesetzt –, von „Beratungsstellen für Kriegerehrungen“ und dass schon im zweiten Kriegsjahr 69 Kriegskochbücher veröffentlicht wurden.

Der Erste Weltkrieg war nicht nur das bis dahin blutigste Massaker in der Geschichte der Menschheit, nicht nur das Ende aller Illusionen über Fortschritt und Zivilisation: Als 1918 endlich Frieden geschlossen wird, gibt es das alte Europa nicht mehr, die Monarchien sind zusammengebrochen, die Ideologien auf dem Siegeszug. Mit der Enzyklopädie, mehr Lesebuch als Lexikon, gibt es nun endlich das angemessene Nachschlagewerk für diese epochale Zäsur.

Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Irina Renz (Hrsg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Schöningh Verlag, Paderborn 2004 . 1001 Seiten, 78 Euro.

Jörg Kirchhoff

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