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Gesundheit: Warum Babys ihr Besteck fallen lassen

Donata Elschenbroichs neues Buch erklärt, was Kinder an Naturwissenschaften fasziniert

Bis vor wenigen Jahren suchte man in deutschen Kindergärten in aller Regel vergeblich nach Ansätzen naturwissenschaftlicher Bildung. Zu abstrakt seien Physik und Chemie für Kindergartenkinder, viel zu schwierig. Fragen wie „Warum ist der Himmel blau?“ wurden eher als vorphilosophische Manifestationen gewürdigt, denn vernünftig beantwortet. Ein Grund für diese Zurückhaltung reicht bis in die siebziger Jahre zurück, als man im technologischen Wettlauf zwischen West und Ost versuchte, mit Lern- und Förderprogrammen bereits im Kindergarten den wissenschaftlichen Nachwuchs zu trimmen. Viele Pädagogen wandten sich gegen diese instrumentelle Form frühkindlicher Wissensvermittlung, was aber zu einer nachhaltigen Abwehr gegenüber allem führte, was irgendwie nach Naturwissenschaft roch.

Ein anderes Ressentiment rührt aus der Schulzeit: Weil viele Lehrer Physik und Chemie nicht mit dem Alltag von Kindern verbanden, erlebten viele diese Fächer als langweilig, unverständlich, als Büffelei ohne nachhaltige Folgen. Wie soll man mit einem solchem Verständnis Kindern naturwissenschaftlich etwas vermitteln?

All das änderte sich schlagartig mit der Pisa-Studie, die erschreckende Defizite der deutschen Schüler zutage brachte. Seither sind in allen Bundesländern Bildungspläne für den Kindergarten erschienen, die Naturwissenschaften bilden einen festen Bestandteil des Bildungskanons. In Theorie und Praxis schimmern jedoch bereits wieder Tendenzen durch, die auf die rein instrumentelle Wissensvermittlung hinauslaufen. Hier setzt die Kindheitsforscherin Donata Elschenbroich in ihrem neuen Werk „Weltwunder. Kinder als Naturforscher“ an. Sie weist nach, wie dürftig und kontraproduktiv ein solches naturwissenschaftliches Bildungsverständnis ist, und plädiert für eine zweckfreie und offene Haltung, die sich an den Interessen der Kinder und nicht der von Erwachsenen orientiert. Was das genau meint, arbeitet sie in Gesprächen mit Wissenschaftlern, durch interkulturelle Vergleiche und Beobachtungen heraus – wie in ihrem voran gegangenen Buch „Weltwissen der Siebenjährigen“, durch das sie bekannt wurde.

Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist, dass der Mensch von Geburt an ein Interesse an naturwissenschaftlichen Phänomenen hat. Die neuere Säuglingsforschung zeigt, dass bereits Babys über naturwissenschaftliche Konzepte verfügen. So wundern sie sich, wenn ein Ball aus einer geöffneten Hand nicht zu Boden fällt. Das heißt: Sie haben eine Idee von der Schwerkraft. Erste Vorstellungen von der Konstanz von Geschwindigkeit sind entwickelt: Verschwindet ein Auto mit einer bestimmten Geschwindigkeit hinter einer Wand und taucht schneller oder langsamer wieder auf, stutzt ein Säugling.

Aus diesen Beobachtungen zieht Elschenbroich einen wichtigen Schluss: Ziel ist es nicht, aus Kindern kleine Naturforscher zu machen, sondern zu erkennen, dass sie bereits solche sind. Wer weiß, dass ein Kleinkind, das mit Begeisterung immer wieder den Kaffeelöffel auf den Boden wirft, die Gesetze der Schwerkraft erprobt, wird anders auf dieses Verhalten reagieren als jemand, der es als Provokation interpretiert.

Kritisch setzt sich Elschenbroich mit dem Experiment auseinander, das als Königsweg der frühkindlichen naturwissenschaftlichen Wissensvermittlung gilt. Kinder können damit die Natur gezielt befragen und klare Antworten bekommen. Andererseits ist es eine Verengung, naturwissenschaftliches Denken auf solche Wenn-dann-Beziehungen zu reduzieren. Noch problematischer ist für sie, dass bei Experimenten die Versuchsanordnung von Erwachsenen vorgegeben wird. Dabei erwerben die Kinder zwar durch eigene Erfahrung neues Wissen, aber es kommt nicht auf wissenschaftlichem Weg zustande. Elschenbroich plädiert für das selbstständige Experimentieren, eine offene wissenschaftliche Haltung, eine Haltung, die Kindern von sich aus zeigen und die ihnen dann abtrainiert wird.

Elschenbroich parallelisiert in diesem Zusammenhang die kindliche Annäherung an naturwissenschaftliche Phänomene mit der Entstehungsgeschichte der Naturwissenschaften. Wenn Kinder sammeln, ordnen und vom Detail ausgehend die Welt verstehen möchten, ähneln sie den frühneuzeitlichen Naturforschern, die mit einfachen Methoden die Rätsel der Welt entschlüsseln wollten.

Erfrischend entmystifizierend begibt sich Elschenbroich auf die Spuren von Physik und Chemie im Alltag: beim Kochen, Putzen, Schaukeln, Bauen. Wenn man sich darüber auseinander setzt, dass das Rutschen auf dem frisch gebohnerten Boden so großen Spaß macht, weil sich das physikalische Phänomen der Bodenhaftung verändert hat, verlieren die Naturwissenschaften endgültig ihren abstrakten und autoritären Charakter. Auch wenn Elschenbroich in ihren Assoziationen manchmal über das Ziel hinausschießt, sind ihre Überlegungen von immensem Wert für die Auseinandersetzung zur Naturwissenschaftvermittlung in der frühen Kindheit. Nicht Didaktisierung und bloßer Wissenserwerb sind das Ziel, sondern der Erhalt der Freude am Forschen und Entdecken und zwar vor allem deshalb, weil die Naturwissenschaften ein unverzichtbares Instrument der menschlichen Erkenntnisfähigkeit sind.

Donata Elschenbroich: Weltwunder. Kinder als Naturforscher. 272 Seiten, Antje Kunstmann Verlag, München 2005, 19,90 Euro.

Sigrid Weber

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