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Gesundheit: Was vor dem Urknall geschah

Hunderte von Physikern suchen nach der „Weltformel“ – wird Einsteins Traum Wirklichkeit?

Ganz am Ende der New Yorker Columbia-Universität liegt Pupin Hall, ein hohes Backsteingebäude wie aus einem Batman-Film. Hier hatte 1939 das Manhattan-Projekt seinen Ursprung, jenes Top- Secret-Unternehmen, das zum Bau der Atombombe führte.

Heute residiert hier das Institut für Strings, Kosmologie und Astroteilchenphysik von Brian Greene. Greene gehört zu den bekanntesten Physikern auf dem Gebiet der String-Theorie. Seine Mission: Einsteins Traum verwirklichen.

Die letzten 30 Jahre seines Lebens hatte sich Albert Einstein auf die Suche nach einer Theorie gemacht, mit der sich das gesamte Universum beschreiben und erklären lässt – einer „Weltformel“. Wie man ihn belächelte damals, ja, bemitleidete, den schrulligen Professor mit der wilden Mähne! Und tatsächlich, Einstein scheiterte; er fand seine Formel nicht.

Jahrzehnte später urteilen Greene und Kollegen: Nicht sein Traum war falsch, sondern nur Einsteins Voraussetzungen. Längst haben Hunderte von Physikern das ehrgeizige Projekt, bei dem buchstäblich alles auf dem Spiel steht, wieder aufgegriffen. Sie basteln an einer Theorie, die als heißer Kandidat für die Weltformel gehandelt wird: die String-Theorie.

Doch die String-Theorie ist nicht die einzige Anwärterin auf eine Kompletterklärung des Kosmos. Vor kurzem hat sie Konkurrenz bekommen. Von einem Gedankengebäude, das sich „Loop-Quantengravitation“ nennt. Der Ansatz, das geben sogar String-Denker zu, weist einige entscheidende Vorzüge auf. Mit ihr lässt sich selbst jenseits des Urknalls rechnen.

Noch befinden sich die Loop-Leute in der Minderheit. In Deutschland gibt es nur zwei Physiker, die sich ihr verschrieben haben. Einer von ihnen ist Martin Bojowald vom Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik in Golm bei Potsdam, auch Albert-Einstein-Institut genannt. Das Dorf Golm, eine Stunde von Berlins Zentrum entfernt, umgeben von Feldern, auf denen Kühe grasen – es könnte kaum einen größeren Kontrast zu Greenes nervöser Denkstätte inmitten von Manhattans Wolkenkratzern darstellen.

Brian Greenes Büro ist klein, aber elegant, mit Ledercouch, einem großen, schweren Holzschreibtisch und an der Wand die Wasserlilien von Monet. Greene, gelocktes Haar, grüner Rollpulli, versinkt in einen Sessel, während er die Grundzüge der String-Theorie erklärt.

Nicht die Atome, doziert Greene mit sonorer Stimme, sondern die Strings sind die fundamentalen Bausteine des Universums. „Strings kann man sich wie die Saiten eines Cellos vorstellen, nur kleiner, viel kleiner.“ Je nach Schwingung, sozusagen je nach Ton, bringt ein String ein anderes Atomteilchen hervor, ein Elektron zum Beispiel oder ein Quark – der Kosmos als gigantisches Konzert.

Das klingt nicht nur hübsch, sondern ist auch hilfreich: Mit den Strings gelingt es erstmals, Einsteins Relativitätstheorie und die Quantenmechanik, die zwei bedeutendsten Physiktheorien des 20. Jahrhunderts, die bislang als unvereinbar galten, zusammenzufügen. Die Relativitätstheorie zielt auf das Große, beschreibt die Planeten, Sterne und Galaxien mit ihrer Schwerkraft. Die Quantenmechanik dagegen erfasst die Welt des Winzigen, der Moleküle, Atome und subatomaren Teilchen. Beide Modelle sind durch Beobachtungen bestätigt worden, „immer wieder“, sagt Greene. Sie haben nur ein Problem: Sie passen nicht zusammen.

Einerseits lässt sich damit leben. Weil sich Einsteins Welt und die Quantenwelt in den meisten Fällen nicht in die Quere kommen. In den Atomen regieren andere Kräfte als die Schwerkraft. Umgekehrt braucht man sich bei kosmischen Dimensionen um Quanten nicht zu kümmern.

Aber es gibt Ausnahmen. Schwarze Löcher zum Beispiel oder die Situation vor Milliarden von Jahren, als der gesamte Kosmos auf einen unendlich kleinen Punkt geschrumpft war: der Zustand vor dem Urknall, das, was Physiker als „Singularität“ bezeichnen. Die gewaltige Schwerkraft der Singularität verlangt nach Einstein, ihre Winzigkeit nach der Quantentheorie.

„An der Stelle kommt die String-Theorie ins Spiel“, sagt Greene und erhebt sich, seine Stimme vibriert, als hielte er eine Antrittsvorlesung. Wenn die Strings die Welt im Innersten zusammenhalten, kann die Singularität kein unendlich kleiner Punkt gewesen sein. Sie muss mindestens die Größe eines Strings gehabt haben. „Strings“, sagt Greene, er ruft es fast, „dehnen den Punkt aus, geben ihm eine Größe.“ Das ist der Kerngedanke. Damit lassen sich Einsteins Relativitätstheorie und die Quantenwelt mathematisch unter einen Hut bringen.

Während derzeit zahlreiche Physikern dabei sind, die Details der String-Theorie auszuarbeiten, verfolgt „eine kleine Fraktion einen anderen Weg“, wie Martin Bojowald leise, fast vor sich hin murmelnd sagt. Bojowald wirkt eher nüchtern, mit Brille, ein bisschen, wie man sich einen Physiker vorstellt, sachlich, im Vergleich zu dem Selbstdarsteller Greene. Sein Büro ist noch kleiner als das von Greene, zwei mal fünf Meter. Karg, kahle Wände, zwei kleine Tische, zwei Stühle, ein Computer, ebenfalls eine Tafel, mit Formeln voll gekritzelt. Die String-Theorie hat zwei entscheidende Nachteile, sagt Bojowald: Sie funktioniert nur unter der Annahme, dass der Raum, der uns umgibt, nicht aus drei, sondern aus neun oder zehn Dimensionen besteht – kuriose Extra-Welten, die kein Mensch je beobachtet hat.

Zweiter Nachteil: Die Theorie muss Zeit und Raum als Hintergrund annehmen, als Bühne, auf der die Strings spielen. Mit anderen Worten, Raum und Zeit selbst sind mit den schwingenden Saiten noch nicht erklärt. „Bei der Quantengravitation ergeben sich Zeit und Raum aus der Theorie heraus“, sagt Bojowald.

Die Loop-Quantengravitation ist noch um einiges abstrakter als die String-Theorie. Sie besagt, dass der Raum aus einem Netz ringförmiger Schleifen („Loops“) besteht, einer Art Gitter der Raumzeit. Dazwischen erstreckt sich das Nichts. Raum, der nicht existiert. Dieser Vorstellung zufolge könnte ein Quantenfloh nicht einfach durch den Raum krabbeln, er müsste von Schleife zu Schleife hüpfen. Der Raum ist, wie das im Fachjargon heißt, nicht kontinuierlich, sondern „diskret“. Ähnlich „gestuft“ stellen sich die Loop-Denker die Zeit vor. Sie entsteht aus winzigen Veränderungen des Netzwerks. Die Zeit fließt nicht wie ein Fluss, sondern tickt wie eine Uhr, „weil sich das Netzwerk nur sprunghaft ändern kann“.

Bizarr anmutende Gedankenkonstruktionen sind das, und doch bieten die Hypothesen den Physikern die Möglichkeit, sich bis an den Urknall heranzurechnen. So begann man die Loop-Quantengravitation damit, die Relativitätstheorie in die Sprache der Quantenwelt zu übersetzen. Der Vorteil: Einsteins Formeln brechen nun beim Big Bang nicht mehr zusammen.

Der heute 32-jährige Bojowald ging noch einen Schritt weiter und rechnete sich in einem mehrjährigen Mathematik- Marathon zu jener Welt zurück, die „hinter“ dem Urknall liegt. Dabei stieß er nicht etwa auf eine kosmische Endstation. Vielmehr eröffnete sich auf der anderen Seite der Singularität eine Art Kopie unseres Kosmos, „nur dass links und rechts und außen und innen vertauscht sind, wie bei einem umgestülpten Luftballon“, sagt Bojowald. Nach seinen Berechnungen markiert der Urknall somit nicht den Beginn der Zeit, sondern „das Universum existierte immer schon“.

Strings, Extra-Dimensionen, umgestülpte Universen – ist das noch Physik oder ist das Metaphysik? So mancher Fachkollege meint: Da könne man genauso gut die Zahl der Engel ausrechnen, die auf einer Nadelspitze Platz finden! Andererseits ließ sich erwidern: Der Urknall ist nun mal, wie die Quantenwelt, eine ziemlich ferne, exotische Realität.

Aber die String- und Loop-Theoretiker bekämpfen sich auch gegenseitig. Unter den Loop-Leuten kursiert der Scherz von dem String-Anhänger, der nach einem Vortrag über die Quantengravitation bedauert, die Theorie sei ja ganz schön, habe aber den Fehler, dass der Raum nur aus drei Dimensionen bestehe – woraufhin der Loop-Physiker entgegnet: „Sie meinen, genau wie in der realen Welt?“

Noch hat man sich wenig zu sagen. „Ich verstehe die Loop-Quantengravitation mathematisch“, meint Greene, „aber ich habe keinen intuitiven, gefühlsmäßigen Zugang zu ihr.“ Andere hegen die Hoffnung, die Weltformel sei noch am ehesten in einer Verschmelzung beider Modelle zu finden. Bojowald glaubt, dass auf dem Weg dorthin „etwas ganz Neues“ entstehen wird. Eine Welt jenseits von Loops und Strings.

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